Das Fünfte Geheimnis
wenn nun doch jemand nicht will?«
Madrone zuckte mit den Achseln. »Wenn jemand tatsächlich nicht arbeiten will, erhält er einen Mindestlohn. Davon kann er leben, aber mehr auch nicht. Für Luxus ist da kein Platz. Manchmal werden Leute krank und können nicht mehr arbeiten, oder sie haben ein Ch'i-Defizit und deshalb nicht mehr genügend Lebenskraft. Dann versuchen wir, sie zu heilen. Manchmal mögen die Leute bestimmte Arbeiten nicht, doch es gibt immer eine andere Arbeit für sie. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein gesunder Mensch keine Lust hat, irgend etwas zu tun. Sie finden es schnell langweilig, fühlen sich isoliert und schämen sich schließlich. Dann schicken wir sie zu einem Psychologen.«
»Da gibt es verschiedene Probleme«, sagte die Frau neben Madrone, »hier werden diese Menschen in Lagern zusammengefaßt und durch Wasserentzug gezwungen, in Fabriken zu arbeiten. Kaum einer von denen arbeitet freiwillig.«
»Keine vorschnellen Verurteilungen, Judith«, rief Beth. »Du weißt doch, daß es für jeden freien Job fünfzig Bewerber gibt, und nur einer kann ihn bekommen.«
»Ja, das ist deine Meinung. Aber ich suche schon seit einem Monat einen neuen Gehilfen für den Gärtner. Nur ein Junge hat sich gemeldet. Er konnte nicht einmal lesen und schreiben, geschweige denn Scheiße von einer Schaufel unterscheiden. Entschuldige bitte meine drastischen Worte.«
»Das werde ich nicht«, gab Beth zurück, »obwohl es nicht deine Ausdrucksweise ist, die mich stört, sondern die Ignoranz, die dahinter steckt. Wie können wir erwarten, daß die Jugendlichen lesen und schreiben lernen, wenn unsere Schulen nichts anderes sind als Training-Camps der Millennialisten. Und was würdest du dem Gärtnerjungen bezahlen? Einen Hungerlohn und dazu einige Schluck Wasser. Hast du einmal versucht, so viel anzubieten, daß man davon leben kann?«
»Bitte, meine Damen!« rief Sara, »unser Gast ist nur für kurze Zeit bei uns. Wir selbst haben noch genügend Zeit, um miteinander zu streiten.«
»Und das ist auch schon alles, wozu wir imstande sind«, grollte Beth halblaut. Doch sie schwieg, als eine Frau vom anderen Ende des Tisches Madrone ansprach.
»Was ist mit den schmutzigen Jobs bei euch?« fragte sie, »wer beseitigt den Müll?«
»Bei uns hat jeder Haushalt seinen eigenen Komposthaufen. Die Singles in den kleineren Wohnungen haben einen gemeinsam. Papier und Flaschen einzusammeln und zu recyclen, nun ja, eine ganze Menge Leute scheinen zu finden, daß das ein interessanter Job ist. Man kommt in der Gegend herum, kann mit vielen ein bißchen plaudern. Das ist nicht so langweilig, wie Arbeit in einer Fabrik. Wirklich unbeliebt und auch gefährlich sind andere Arbeiten, etwa die Entsorgung von Giftmüll. Dafür suchen wir erst einmal über unserem Computernetz Freiwillige. Wenn sich keiner meldet, bestimmen wir jemanden dafür, und zwar unter denen, die mit der Produktion von Giftstoffen Geld verdienen. Außerdem ist jeder bei uns verpflichtet, eine bestimmte Zeit im Jahr bei der Beseitigung von Giftstoffen mitzuarbeiten. Aber ansonsten kannst du dir aussuchen, was du gern arbeiten möchtest. Besonders dann, wenn gerade mal keine Epidemie herrscht. Ich mache dann sehr gern mal etwas ganz anderes. Bäume pflanzen etwa oder Äpfel pflücken, denn am liebsten arbeite ich im Freien.«
»Das klingt alles nach perfektem Kommunismus«, konstatierte Beth, »ich dachte, damit wäre es seit den neunziger Jahren vorbei.«
»Kein Kommunismus«, wandte Madrone ein. »Erstens könnte man darüber debattieren, ob es mit den marxistischen Theorien seit den Neunzigern wirklich vorbei ist. Ob der Kommunismus im zwanzigsten Jahrhundert nur eine zeitweise Erscheinung war. Eine Diskussion, die manche Leute bis ins Uferlose führen. Weiß hier jemand etwas von der Moraga-Theorie über die Grenzen der Komplexität?«
»Nein«, antwortete Beth.
»Das ist eine Wirtschafts-Wissenschaftlerin, die sich auch in der Chaos-Theorie gut auskennt. Sie meint, die großen kommunistischen Staaten, wie etwa die Sowjet Union, sind deshalb zusammengebrochen, weil sie versucht haben, über zu vieles die Kontrolle zu behalten. Das war zu komplex. Genauso sei es, sagt Moraga, mit vielen Technologien des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Ursachen sucht sie in der mechanistischen Philosophie der Aufklärung, die die Natur als große Maschine ansah. Etwas, was wir bis ins Letzte erforschen und kontrollieren können.«
Madrone, du machst dich nur
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