Das Fünfte Geheimnis
Schwarze, oder nicht?«
»Einige meiner Vorfahren stammen aus Afrika, wenn es das ist, was Sie meinen?« anwortete Madrone kühl, »andere meiner Vorfahren stammen aus Irland, Spanien, Frankreich. Und wieder andere waren Ureinwohner aus den Regenwäldern Zentralamerikas. Das ist völlig in Ordnung.«
»Von der Teerbürste voll erwischt«, sagte Mary Ellen, aber es klang eher bewundernd.
»Wenn man alle Leute mit afrikanischen Vorfahren von den Universitäten weisen wollte, dann wären sie verdammt leer. So leer, daß man sie schließen müßte. Die menschliche Rasse ist seit jeher nicht artrein.«
»Ja, viele vergessen das«, stimmte Mary Ellen zu.
»Meine Mutter war Ärztin. Meine Großmutter war Psychologin, und ihre Mutter wiederum war Krankenschwester. Ich denke, man könnte sagen, daß das Heilen in der Familie liegt.«
Sara hatte aufmerksam zugehört und sie dabei nicht aus den Augen gelassen. Es schien, daß sie etwas sagen wollte, aber nicht die richtigen Worte finden konnte. Doch dann lächelte sie plötzlich. Nicht auf die leicht arrogante, verführerische Art wie vorher. Sie lächelte ein bezauberndes, herzliches Lächeln.
»Ja, das ist alles richtig. Wir sind alle Kinder des Lebens. Meine Mutter zum Beispiel war ein Call-Girl.«
Madrone blickte sie erschrocken an.
»Ein First-Class-Call-Girl natürlich«, fuhr Sara fort. »Zum Schluß heiratete sie ihren besten Kunden. Und daher, schätze ich, folge auch ich der Familientradition.«
»Gib dir nicht selbst solche häßliche Namen«, bat Mary Ellen. Sie wandte sich an Madrone: »Und du, hör auf, die Gurke so verzweifelt anzustarren. Wenn du sie möchtest, dann iß sie doch auf.«
Sie füllte einen Teller mit Gemüse und stellte ihn vor Madrone. Zögernd griff diese zu und steckte sich ein Stück Gurke in den Mund. Fast hätte sie gewünscht, die beiden Frauen ließen sie nun allein, damit sie die köstliche, saftige Kühle der Gurke auch voll auskosten könnte. Wie sollte sie sich nun auf das konzentrieren, was noch zu sagen war?
Mary Ellen füllte weiteres Gemüse in eine große Schüssel und richtete einen Salat an. Madrone aß. Unter den Augen von Sara fühlte sie sich zunehmend unwohl.
»Vielleicht kann sie dem Kind helfen«, sagte Sara nachdenklich.
»Der Besuch kommt in einer halben Stunde.«
»Ja, ich weiß.«
»Und Mr. Hall, was ist mit ihm, wenn er heimkommt?«
»Er ist für eine Woche fort, Jesus sei Dank«, sagte Sara, dann wandte sie sich wieder Madrone zu. »Wie heißt du?«
Madrone widerstand der Versuchung, sich das ganze noch vor ihr liegende Gemüse auf einmal in den Mund zu stopfen. Sie überlegte blitzschnell, ob sie einen falschen Namen angeben sollte. Doch es erschien ihr unnötig, ihr Name war niemandem ein Begriff, außer ihren Freunden. »Ich heiße Madrone. Wenn ich Ihnen helfen kann, will ich das gern tun.«
»Ich mache den Lunch fertig«, sagte Mary Ellen, »sprich du mit ihr.«
✳✳✳
Im Keller des Hauses, schon halb in den Hügel hineingebaut, lagen zwei düstere Zimmerchen, die Dienerquartiere. Doch im Vergleich mit den Zuständen oben in den Bergen wirkten sie geradezu luxuriös. Richtige Betten gab es da, mit richtigen Matratzen und Decken darauf, und sogar Kleiderschränke. Auf dem einen Bett lag ein schmächtiges Kind, ein Mädchen, gerade mal fünf Jahre alt, wie Madrone schätzte. Selbst bei dem Dämmerlicht, das hier herrschte, konnte sie sehen, daß das Mädchen schwer krank war. Über ihrer nußbraunen Haut lag ein grauer Schimmer, und die Lippen wirkten bläulich.
»Sie heißt Angela«, sagte Sara, »sie ist meine Nichte. Kannst du ihr helfen?«
»Ich weiß nicht.« Madrone kniete neben dem Bett nieder und legte dem Mädchen sacht ihre Hand auf die Brust. Sie verlangsamte ihren Atem und konzentrierte sich darauf, die Energieströme des Kindes zu erfühlen. Ja, was sie nach dem ersten Blick auf das Mädchen schon vermutet hatte, verdichtete sich zur Gewißheit.
»Blutkrebs«, flüsterte Madrone, »Leukämie.«
»Ja, das ist es, was wir alle befürchtet haben«, seufzte Sara.
»Aber es gibt Heilmittel«, fuhr Madrone fort, »jeder gute Arzt kann sie behandeln.«
»Aber kein einziger Arzt wird sie behandeln! Offiziell ist es Mary Ellens Kind.«
»Ich verstehe nicht.«
»Meine Schwester, die nie besonders klug war, hatte eine Liebelei mit Mary Ellens Sohn. Sie waren diskret, aber nicht vorsichtig, und so wurde sie schwanger. Wir drängten sie zu einer Abtreibung. Aber es war damals zu
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