Das Fünfte Geheimnis
Madrone an. Nur ab und zu streifte sie ein merkwürdig interessierter Blick. Zum Glück, dachte Madrone. Es kostete sie schon genügend Mühe, langsam zu essen und auf ihre Tischmanieren zu achten.
Nachdem sie ihre Kuchen gegessen hatten und die Frauen aus rosafarbenen Täßchen ihren Kaffee nippten, bat Sara plötzlich um Ruhe.
»Wir haben heute eine ganz besondere Besucherin unter uns, meine Damen«, fing sie an, »wie ihr alle wißt, haben vor zwanzig Jahren die Stewards die Macht an sich gerissen und kontrollieren seitdem weitgehend das Land. Weitgehend, aber nicht das ganze. Es gibt isolierte Gebiete, die sich behaupten konnten. Unser Gast kommt aus einem solchen Gebiet, aus dem Norden. Sie ist unter großen Gefahren und Anstrengungen hierher gekommen. Ich habe sie gebeten, uns etwas über das Leben und die Zustände in ihrer Gegend zu erzählen.«
Alle blickten Madrone an. Ihr Herz klopfte nervös. Vorsichtig setzte sie die hauchdünne Tasse ab und blickte sich um. Sie erkannte die einzelnen Gesichter um sich herum, bemerkte die unterschiedliche Kleidung, sah erst jetzt, daß es Frauen unterschiedlichen Alters waren, die sie da gespannt ansahen.
»Ich heiße Madrone«, begann sie und merkte, daß sie in dem gleichen nachdrücklichen Tonfall zu sprechen begonnen hatte, wie sie es bei einem Council Meeting zu Hause immer tat. Aber das leichte Unbehagen auf den Gesichtern der Frauen erinnerte sie daran, daß sie nicht bei einem Meeting war. Sie senkte ihre Stimme und legte die Hände fest in den Schoß. Diese Frauen sind auch nervös, erkannte sie plötzlich, und unter dem angenehmen Geruch von Kaffee und Kuchen erahnte sie sogar einen Hauch von Angst. »Ich komme aus San Francisco, oder wie wir es auch nennen, Hierba Buena oder Gum Sahn. Aber meist sprechen wir ganz einfach nur von der City. Ich bin eine Heilerin, Ärztin würden Sie dazu sagen. Ich bin hier herunter gekommen, um den Menschen, die hier gegen die Stewards kämpfen, ärztliche Hilfe zu bringen.«
»Es gibt weibliche Ärzte im Norden?« rief eine Frau erstaunt.
»Die Frauen im Norden können jeden Beruf erlernen.«
Ein Raunen ging durch den Raum. Dann blieben die Blicke auf einer älteren Frau haften. Ihr graues Haar war streng nach hinten zusammengebunden.
»Ich war Ärztin«, sagte sie, und hielt dann inne, »nein, ich bin Ärztin. Die Stewards können mir zwar die Lizenz entziehen, aber sie können mir nicht mein Wissen und Können nehmen. Also, staunt nicht über einen weiblichen Arzt wie über ein rosa Zebra. Ein weiblicher Arzt ist nichts Ungewöhnliches.«
»Danke, Beth«, schaltete sich Sara ein, »Madrone erzähle weiter.«
»Wir City-Bewohner glauben an die Vier Heiligen Elemente«, begann Madrone wieder.
»Wie die Vier Reinheiten der Millennialisten?« fragte eine schlanke Frau etwas zögernd.
»Was soll das sein?« fragte Madrone zurück.
»Moralische Reinheit, Reinheit in der Familie, Reinheit der Rasse, Reinheit des Geistes und der Seele.«
»Nicht genauso«, antwortete Madrone nachdenklich, »die Vier Heiligen Elemente sind Erde, Luft, Feuer und Wasser. Niemand kann diese Dinge wirklich besitzen, niemand soll aus ihnen Profit ziehen. Wir alle sind für diese heiligen Dinge verantwortlich, niemand darf ihnen schaden. Das ist die Grundlage unserer Politik und unserer Wirtschaft.«
Eine Flut neuer Fragen prasselte auf sie nieder, und plötzlich war Madrone mitten im Erklären, warum sie von diesen Dingen überzeugt war, weshalb sie daran glaubte.
»Bei uns hat jeder genug zu essen und zu trinken. Jeder hat einen Platz zum Leben, jeder Kranke wird gepflegt. Es ist nicht immer einfach, weil Epidemien uns viele Menschenleben gekostet haben. Es gibt viel zu heilen, nicht nur Menschen, auch unsere Umwelt, auch unsere Gewässer brauchen uns. Aber wir haben trotzdem genügend, und wir teilen es miteinander. Jeder bei uns macht sich nützlich, jeder bei uns arbeitet hart. Keiner von uns wird bevorzugt oder benachteiligt...« Sie zögerte, weil ihr bewußt wurde, daß das, was sie sagen wollte, diese Frauen vielleicht befremden würde, und nicht nur das. »...weil er einem anderen Volk oder einer anderen Rasse angehört«, beendete Madrone ihren Satz.
»Aber wie bringst du die Leute zum arbeiten, wenn sie es vielleicht nicht wollen?«
»Jeder Mensch will arbeiten. Genauso wie ein kleines Kind herumlaufen und sprechen will, es ist ein Urbedürfnis. Und jeder bei uns möchte seinen Beitrag zum gemeinsamen Leben leisten.«
»Und
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