Das Fünfte Geheimnis
Perversionen?« fragte eine andere.
»Bei uns gibt es keine Perversionen.«
»Oh, komm schon«, sagte Beth, »jede menschliche Gesellschaft überall auf dieser Welt kennt Homosexualität.«
Madrone lachte. »Oh, davon haben wir eine ganze Menge. Ist das eine Perversion?«
»Unter anderem. Was ist mit Inzest und Kinderschändung?«
»Bei uns gibt es keine soziale Isolierungen, wodurch so etwas hervorgerufen würde. Bei uns gibt es verschiedene Formen von familiärem Zusammenleben. Einige von uns wachsen in größeren Kollektiven auf, so wie ich. Andere gehören zu ausgedehnten Familien. Da gibt es Onkel, Tanten, Nichten, Cousinen, Großväter, Großmütter. Andere wieder wachsen in Kernfamilien auf, also nur mit Vater und Mutter. Aber wir stellen sicher, daß keine Familie, groß oder klein, isoliert ist. Das Nachbarschafts-Council stellt Versorgungsgruppen zusammen. Darin finden sich Leute aus den verschiedensten Familienformen wieder, verschiedener Herkunft – und so lernt jeder, daß es unterschiedliche menschliche Perspektiven gibt. Jedes Kind hat sozusagen ein Dutzend verschiedene Tanten und Onkel, und das von Geburt an. Die Kinder werden ermutigt, über alles zu sprechen, und sich nicht zu scheuen, um Hilfe zu bitten. Und wir bringen allen Kindern, Mädchen ebenso wie Jungen, Selbstverteidigung bei. Oh ja, ich habe eine ganze Menge über Inzest und Kinderschändung gelesen. Aber bei uns gibt es einfach diese Geheimnistuerei rund um den Sex nicht, und auch nicht das schamhafte Verbergen des nackten Körpers. Ich will nicht sagen, daß bei uns so etwas nie passiert. Aber nichts bei uns unterstützt eine solche Entwicklung. Ähnlich ist es mit Vergewaltigungen. Unsere Männer glauben keineswegs, daß sie das Recht haben, eine Frau zu vergewaltigen. Im Gegenteil, Vergewaltigung gilt bei uns als das Schändlichste, was ein Mann tun könnte.«
»Und wenn es doch passiert?« fragte die kleine Frau.
»Wenn doch? Nun, als erstes würde ihm jeder in seiner Familie sagen, wie entsetzt sie über ihn sind und wie sehr sie sich schämen. Und genauso seine Freunde, seine Gruppe, seine compas, seine Gilde, seine Nachbarn, vermutlich das gesamte City Council. Er würde nirgends mehr willkommen sein, nirgends mehr zum Essen eingeladen werden. Unsere Psychologen würden ihm zwar zuhören, wenn er zu ihnen geht. Aber es würde ihn viele Jahre kosten, das zerstörte Vertrauen seiner Mitmenschen wieder aufzubauen. Vermutlich müßte er in die Berge gehen und bei den Wild Boar-Leuten leben. Das sind die einzigen, die wir noch nicht in unsere Gesellschaft eingliedern konnten.«
»Und wenn er das nicht will? Was tut ihr dann mit ihm? Gibt es bei euch eine Polizei?«
»Wir finden es besser, niemandem eine solche Rolle zuzumuten. Einmal ist die Polizei sowieso nie dort, wo sie gerade wirklich gebraucht wird, zum anderen neigt sie dazu, ihre Befugnisse zu mißbrauchen. Statt dessen, wie ich schon sagte, lernen wir alle von Kindesbeinen an Selbstverteidigung, und die Älteren werden außerdem noch eigens geschult. Sie lernen, wie ein Streit friedlich beigelegt werden kann, wie ein Erzürnter beruhigt und von Tätlichkeiten zurückgehalten wird. Wenn Leute sich einmal in die Haare geraten, was schon mal vorkommt, obwohl selten genug, immer ist jemand da, der die Streithähne auseinander bringt. Ich habe einmal erlebt, wie ein Mann zu den Wild Boars in die Verbannung geschickt wurde. Er wollte nicht, weinte und schrie und griff andere an. Aber umsonst, zu viele hielten ihn so lange fest, bis er sich ergab. Das Besondere war, daß alle sich bemühten, ihn nicht zu verletzen. Sie packten ihn auf einen Lastwagen und irgend jemand fuhr ihn in die Berge hoch, in die Sonoma Hills, wo die Wild Boar People leben. Und wenn du einmal verbannt wurdest, geht dein Name durchs Computernetz. Jeder weiß, wer du bist, jeder kennt deinen Namen, du kannst nur zurückkommen, wenn das City Council zustimmt. Seit zehn Jahren lassen wir einige der Wild Boar People im Mittwinter in die City kommen, damit sie ihre Schweine verkaufen können. Aber das ist auch schon alles.«
»Aber wenn alle unbewaffnet sind, könnte dann nicht irgend ein Verrückter, mit einem Lasergewehr bewaffnet, die ganze City unter seine Kontrolle bringen?« fragte Judith.
»Oh nein«, sagte Madrone, »irgend jemand würde ihn stoppen. Die Leute würden ihn alle zusammen stoppen, selbst auf die Gefahr hin, daß jemand getötet würde.«
»Oder eine kleine Gruppe von Männern«,
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