Das Fünfte Geheimnis
hier schon geben, hier inmitten der City und ihrem lärmenden Getriebe? Einige von ihnen würden den Weg in die Berge vielleicht schaffen. Aber die anderen? Die niemals aus dem engen Dunstkreis dieser zerstörten Stadt herausgekommen waren, ja, die sogar davor Angst hatten, jemals einen richtigen Baum oder die heranbrausenden Wogen des Ozeans zu sehen. Einfach, weil sie so etwas noch niemals gesehen hatten. Ausgenommen vielleicht einige wilde Kakteen oder Gestrüpp. Und diese fremden Blonden mit ihrer eiskalten Ausstrahlung?
Sie beendete ihren Vortrag. Die nächste halbe Stunde war ausgefüllt mit weiteren Fragen und Dankesworten. Dann konnte sie endlich in ihren Schlafsack kriechen, der in einer Ecke des Raumes ausgebreitet lag. Sie atmete tief, sammelte sich und verbannte alle Gedanken an die Probleme des kommenden Tages aus ihrem Kopf. Sie stellte sich vor, wie Kaskaden warmen Wassers über ihren Körper fluteten, alle Ängste und Zweifel des Tages von ihr abwuschen. Schüttele den Gedanke an alle schweren Bürden ab. Madrone, sagte sie sich, laß deine Zweifel fahren. Laß ab von dem Wunsch, deine Zuhörer anzuschreien, wenn sie sich ignorant zeigen. Laß alles fahren, nur noch schlafen. Schlafen!
Sie war gerade am einnicken, als sie einen kleinen Körper spürte, der sich an sie drängte. Es war die kleine Poppy. Madrone zog sie an sich und deckte sie sorgsam zu. Das Kind drehte sich zu ihr und begann mit seiner kleinen Hand Madrones Brüste zu liebkosen. Mit einem Schlag war Madrone hellwach. Was war denn los? Poppys Hand glitt abwärts, mit einer Geschicklichkeit, die ganz unkindlich war. Dabei zitterte das Mädchen am ganzen Körper.
Sanft zog Madrone die Hand des Kindes von ihrem Körper fort. Sie fühlte sich krank vor Erschöpfung. Was war jetzt zu tun, fragte sie sich verzweifelt. Solche Dinge tat kein Kind aus eigenem Antrieb. Irgend jemand hatte diesem Kind Schreckliches angetan.
»Nein, mein Liebes«, sagte sie freundlich, »ich möchte nicht, daß du so etwas tust. Das ist etwas für Erwachsene, nicht für Kinder.«
Die Kleine machte ihre Hand frei und begann erneut, Madrone zu streicheln, mit einem leisen, ängstlichen Seufzen. Madrone hielt sie fest, sie konnte die Angst des Kindes spüren und riechen. War sie denn dem Angriff dieses Kindes ausgeliefert? Aber wie gut konnte sie doch die Ängste der Kleinen verstehen. Ihre Angst vor Schmerzen, vor Hunger und Durst, vor völligem Ausgeliefertsein, ihr Verlangen nach Sicherheit, nach einem Halt. Ja, sie würde Poppy festhalten, sie in die Arme nehmen. Doch dann fühlte sie sich blockiert. Würde Poppy es nicht nur als eine andere Form von Gewalt empfinden, oder als neue Aufforderung? Diosa! Was tun?
Da begann das Mädchen gellend zu schreien, es riß sich los, rannte zur Tür und schlug mit den Fäusten dagegen. Bevor Madrone sich von ihrer Verblüffung erholen konnte, war Katy da. Sie griff nach einer Decke und wickelte das um sich schlagende Kind ein, ganz fest, bis Poppy sich nicht mehr bewegen konnte. Dann nahm sie das Kind auf den Schoß und wiegte es beruhigend: »Es ist alles okay. Es ist alles gut, es ist alles gut. Du bist hier sicher, Baby, ganz sicher.«
Poppys Schreie hatten alle geweckt. Madrone hörte die anderen murmeln und zurückschlurfen. Sie fühlte sich zu erregt, um einfach wieder schlafen zu gehen. Katy stand auf und trug das Kind hinaus auf den Hof. Madrone folgte ihnen.
Draußen verbreitete der Mond diffuses Licht. Katy saß mit Poppy auf dem Schoß auf einer Bank, eine Madonna mit Kind. Madrone setzte sich zu ihnen. Poppy hatte aufgehört zu weinen. Katy wiegte sie weiter sanft hin und her und flüsterte ihr beruhigend zu. Der Atem des Kindes wurde ruhiger, gleichmäßig und dann schlief es ein.
»Morgen ist alles okay«, sagte Katy, »sie hat Alpträume.«
»Das war kein Alptraum«, sagte Madrone, »sie wollte...«, sie zögerte, »sie wollte mich anfassen. Sie wollte Sex. Und als ich sie daran hinderte, begann sie zu schreien.«
»Natürlich, das mußte sie ja«, sagte Katy.
»Wieso?«
»Sie hat gelernt, daß sie nur auf diese Weise Zuwendung bekommt. Daß sie nur auf diese Weise überleben kann. Du hast sie daran gehindert, Aufmerksamkeit von dir zu bekommen.«
»Jawohl! Und ich würde es wieder!«
»Na, sie wird es schon lernen, daß sie Liebe und Zuwendung auch auf andere Weise finden kann. Hoffen wir es. Wer hat schon so viel Zeit und Energie und den Optimismus, ihr das beizubringen? Aber sie ist noch sehr
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