Das Fünfte Geheimnis
Heilkunst.«
Sie machte eine Pause. »Beginnen wir mit dem Kreislauf in uns selbst. Wir nennen diesen Kreislauf Selbsterkenntnis, die Übereinstimmung mit den Vier Heiligen Dingen – innerhalb und außerhalb unseres Selbst. Schließt die Augen und fühlt euren Atem. Das ist das erste Heiligtum in uns selbst. Es ist der Atem des Lebens, der uns Gefühle eingibt und Phantasie. Atmet tief ein, füllt eure Lungen und den Körper damit, bis in die letzten Tiefen. Wir können ohne Luft zum Atmen nicht leben, doch es ist immer genug davon vorhanden. Ihr habt vielleicht nicht genug zu essen oder zu trinken, aber davon hängt es nicht allein ab, wie ihr mit dem Atem umgeht.«
»Immer langsam«, murmelte jemand, und alle lachten.
»Gut so«, sagte Madrone, »im Lachen zeigt sich Spiritualität. Sie läßt euch tief atmen und ist der Beginn eurer inneren Stärke. Diese Stärke erweckt das zweite Heiligtum in euch, euer inneres Feuer, eure Energie. Ihr müßt nur ganz bewußt darauf achten, wie ihr euch fühlt. Stark oder schwach? Munter oder müde? Denkt daran, Energie ist eine Kraft, die euch durchströmt, als wäret ihr ein Baum, dessen Wurzeln tief in die Erde reichen. Kann einer von euch einen Baum zeichnen?«
»Nein«, murmelten einige zögernd. Madrone stutzte erstaunt.
»Kommt, wir gehen mal in die Berge und gucken uns welche an«, rief einer, und wieder lachten alle.
»Stell dir vor, du bist eine Ratte«, rief ein anderer, »und du schnüffelst auf den Straßen im Müll, um etwas zu fressen zu finden.«
»Nein, lieber ein Bussard, der über den Bergen und der City kreist und nach Beute Ausschau hält. Und dann sieht er nur diese Trümmer überall und die kümmerlichen vertrockneten Menschen dazwischen, so blutarm, daß er sie nicht einmal riechen kann.«
»Schluß damit«, schrie jemand, »laßt uns weitermachen. Wenn jemand über Ratten und Bussarde sprechen möchte, dann kann er das draußen tun.«
»Stellt euch also eine Pflanze vor«, fuhr Madrone schnell fort, »irgendeine Pflanze. Sie schickt ihre Wurzeln gegen alle Widerstände in Tiefe, hinunter zum Wasser und ins feurige Herz der Erde. Unsere Erde ist das vierte Heiligtum, ihr Feuer verwandelt sich zur Quelle menschlicher Energien. Das ist die Kraft, die wir der Erde verdanken, und diese Kraft ist immer da. Atmet tief ein, und holt diese nie versiegende Energie durch eure Wurzeln in euren Körper, so wie die Pflanze sich Wasser durch ihre Wurzeln holt...«
Sie führte sie durch die Visualisierung der Baumenergien, die sie durch ihren Körper hindurchfließen ließen, zeigte ihnen, wie sie Zweige und Blätter ihrer Aura mit dem Erden-Feuer anfüllen konnten und wie sie die Kraft der Sterne herunterholen konnten, um heil und ganz zu werden.
Danach besprachen sie in kleinen Gruppen, was jeder von ihnen dabei empfunden hatte. Sie bildeten Paare, die gegenseitig die Aura des Gegenübers erspüren sollten. Madrone ging umher und beantwortete überall Fragen. Sie fühlte sich etwas entmutigt. Es gab so viel zu fragen, es gab so viel zu lernen, für jeden. Über den Fluß von Energieströmen, aber auch alle jene simplen Fragen waren zu beantworten: erste Hilfe, die Behandlung von Wunden, Wirksamkeit und Grenzen von Behandlungen mit Kräutern. Aber vielleicht waren diese konkreten Themen ein guter Ausklang für heute. Als Gegengewicht zu den metaphysischen Ausführungen am Anfang. Morgen würde sie mit ihnen über die künstliche Beatmung sprechen und darüber, wie schwere Blutungen zu stillen seien. Das war es, die schwierigen und die einfachen Dinge abwechselnd vorzubringen, so daß jeder zum Schluß etwas dazugelernt hatte, ungeachtet seiner individuellen Aufnahmefähigkeit. Und die Hill-Boys konnten auf jeden Fall den Gebrauch von Kräutern lernen, von weißem und schwarzem Salbei, von Lorbeer und Beifuß und Manzanita-Rinde.
Aber die eigentlichen Dinge? Die spirituellen Kräfte, und wie sie zu Hilfe zu rufen waren? Wie, dies übermitteln? Sie dachte daran, wie sie selbst sich damals damit abgequält hatte, als sie siebzehn war. Ihr Trip in die Bergeinsamkeit. Drei Tage und drei Nächte hatte sie da gesessen, ohne zu essen und zu trinken.
Inzwischen erschien es ihr als Gipfel des Luxus, umgeben von der wilden Schönheit der Berge, auf Essen und Trinken verzichten zu dürfen. Alle jene Dinge, die sie immer für unveräußerliches Menschenrecht gehalten hatte, schienen inzwischen unerhörte Privilegien zu sein. Welche Visionen konnte sie diesen Menschen
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