Das Fünfte Geheimnis
Fuß. Rund um den Tisch räumten die Leute auf. Teller klapperten, Bestecke wurden eingesammelt.
»Höchste Zeit, einmal etwas zu arbeiten«, lächelte Hijohn, »und höchste Zeit auch für mich, zu gehen. Er nickte einen Gruß in die Runde und wandte sich zur Tür. Katys Augen folgten ihm, bis sich die Tür schloß. Dann wandte sie sich Poppy zu, die auf ihren Schoß kletterte.
»Möchtest du mehr Essen, Poppy?« fragte sie lächelnd.
Eine der blonden Personen bewegte sich und fragte: »Hast du ihr einen Namen gegeben?«
»Ja.«
»Es ist kein Engelsname. Er steht nicht in dem Buch.«
»Welches Buch meint ihr«, fragte Madrone.
»Sie holen sich ihre Namen aus der Liste der gefallenen Engel aus dem Buch der Verstoßenen«, erklärte Katy.
»Sie muß einen Engelsnamen haben.«
»Sie hat einen Blumennamen bekommen«, gab Katy zurück, »es ist ein schöner Name. Ihr habt sie nicht bei den Engeln behalten wollen. Ihr habt sie hierher gebracht. Dann laßt sie also hier, mit ihrem neuen Namen.«
»Was bedeutet der Name Madrone«, fragte ein schmaler Junge.
»Das ist der Name eines Baumes«, antwortete Madrone, »ein schöner Baum, der in den Bergen und den Canyons wächst.«
»Wachsen dort Bäume, wo du herkommst?«
»Viele Bäume«, sagte Madrone, »wir gehen jedes Jahr in die Berge und pflanzen Tausende von ihnen. Wir pflanzen auch in unserer City Obstbäume an allen Wegen. Im Frühling freuen wir uns an Wolken von weißen und rosa Blüten. Und im Spätsommer, wenn die Früchte reifen, kannst du dir überall etwas pflücken und davon essen. Und wir haben keine Angst, daß die Früchte gestohlen werden. Sie gehören sowieso uns allen, und es gibt so viele davon, daß jeder mehr als genug davon haben kann.«
Ihre Worte verklangen in einer fast schmerzhaften Stille.
»Wird es bei uns auch einmal Bäume geben?« fragte derselbe kleine Junge.
»Natürlich!« sagte Katy mit Nachdruck, »natürlich wird es auch hier wieder Bäume geben, überall. Und so viele Früchte, wie jeder nur will, um sie zu essen oder um Marmelade daraus zu machen. Marmelade ist etwas Süßes, das man sich aufs Brot schmiert. Ich habe es als Kind gegessen, es schmeckt sehr gut.«
Nein, dachte Madrone, sie durfte gar nicht denken, an all die saftigen Früchte, süßen Pflaumen, knackigen Äpfel, samtigen Pfirsiche. Und wie rote Johannisbeeren zwischen grünem Blattwerk hervorschimmerten. Genieße lieber jetzt die Bohnen und das köstliche Wasser, ermahnte sie sich. Und dann fragte sie sich plötzlich, wie Katy wohl mit dem Nahrungsmangel zurecht kam, jetzt, wo sie schwanger war. Das Kind unter ihrem Herzen brauchte doch die richtige Ernährung. Gab es hier eine Möglichkeit, Obst und Gemüse zu bekommen?
Nachdem der Eßtisch abgeräumt und das Geschirr gewaschen war, gingen sie alle ins Nebenzimmer. Madrone sah sich vielen hoffnungsvollen Augen gegenüber. Augen in Gesichtern, vom hellsten Elfenbein bis zum tiefen Schwarz von Ebenholz. Sie fühlte plötzlich das ganze Gewicht der Erwartungen aller dieser Menschen auf sich lasten. Wollten sie alle Heiler werden? Wie denn?
Im Hintergrund sah sie die blonden Typen stehen. Ihre Haltung hatte etwas Zynisches. Sie lehnten es ab, sich hinzusetzen, sie wollten nur zuhören.
Wo beginnen, fragte sich Madrone. Sie hatte schon öfter solche Kurse abgehalten. Aber immer vor Menschen, die fast die gleichen Anschauungen hatten wie sie selbst. Woran aber glaubten diese Menschen? Sie begann doch gerade erst selbst, die Welt um sich herum besser zu verstehen. Doch da waren diese Leute. Was sollte sie ihnen sagen? Johanna würde sagen, fang einfach irgendwie an. Sie holte tief Luft.
»Es gibt viele Wege, ein Heiler zu werden«, sagte sie, »aber ich erzähle euch, wie ich es gelernt habe. Wir glauben an die Vier Heiligen Elemente, und das fünfte Geheimnis, das fünfteHeiligtum ist der Geist. Wenn du das richtige Verhältnis zu den vier Heiligtümern hast, erwächst dir die Kraft, mit dem fünften Heiligtum in Kontakt zu treten. Die vier heiligen Dinge sind Erde, Luft, Feuer und Wasser. Sie sind den vier heiligen Richtungen zugeordnet, Norden, Süden, Osten, Westen. Im richtigen Verhältnis mit ihnen zu leben, heißt auch, sie zu schützen und zu bewahren, sie nie zu verschwenden, sie mit anderen zu teilen und den Kreislauf der Regeneration immer wieder zu schließen. Dieser Kreislauf symbolisiert nicht nur das Leben, er ist das Leben selbst. Diesen Kreislauf zu verstehen, ist der Anfang aller
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