Das Fünfte Geheimnis
von niemandem etwas sagen. Im Grunde haben sie alle mehr Gemeinsamkeiten, als sie zugeben würden. Es muß sie nur jemand zusammen bringen, der genügend Phantasie und Energie hat. Dann könnte etwas mehr daraus werden.«
Katy holte Luft: »Und dieses Gefühl hast du ihnen vermittelt, Madrone. Erzähle ihnen vom Norden. Erzähl' von den Bächen und Flüssen, von den Obstbäumen und wie ihr die Baumpflanz-Aktionen in den Bergen organisiert. Wir hier wissen ja gar nichts von solchen Dingen, wußten nicht einmal, daß so etwas möglich ist. Das ist es, was die Leute hier von den anderen Gangs unterscheidet, daß wir eine Idee bekommen haben, von dem, was sein könnte. Und zwar durch dich. Du bist der lebende Beweis für alles. Du mußt nur davon erzählen. Wir sehen dich, wir hören dich, und sehen an allen deinen Bewegungen, daß du die Wahrheit sagst.«
»Ist das wirklich wahr?«
»Du bewegst dich auf eine Art und Weise, die zeigt, daß dein Körper und dein Leben dir gehören. Daß du jedes Recht hast, zu existieren, zu atmen, einen Platz auf dieser Erde zu beanspruchen. Ich habe dich die ganze Zeit beobachtet, Madrone. Du bist deiner selbst so sicher. Es ist keine Arroganz in dir, wie bei manchen reichen Leuten. Du hast auch nicht die harte Eleganz wie die Angels. Du bist so, wie soll ich sagen, grundsolide. Du hast sicher niemals auf jemanden hinuntergeblickt, und bist sicher niemals unterwürfig. Ich beneide dich. Ich hoffe, daß ich mich irgendwann auch einmal so verhalten kann, in einer Welt, in der sich alle frei und leicht bewegen wie du.«
»Oh, ich möchte nicht, daß sich andere Menschen meinetwegen schlecht fühlen, Katy«, sagte Madrone schnell, »es ist schon seltsam. Ich möchte gar nicht so viel über uns im Norden sprechen. Es klingt immer so prahlerisch. Nach Zurschaustellung.«
»Prahle bitte weiter, stell' zur Schau, quäle uns mit Visionen! Zerfleische unsere Herzen! Besser neidisch als hoffnungslos!«
»Und es macht mich krank vor Heimweh«, fügte Madrone hinzu.
»Du hast uns ein großes Geschenk gemacht, indem du hierher gekommen bist. Die meisten hier haben in diesem Kampf nichts zu verlieren. Du schon. Und glaube nicht, daß wir dich nicht zu schätzen wissen, nur weil eines dieser smarten Arschlöcher sich arrogant verhält.«
»Ach, ich giere nicht nach Anerkennung. Ich brauche kein Lob. Deshalb bin ich nicht hierher gekommen. Was ich erreichen möchte, geht eben nicht anders.«
»Was möchtest du denn erreichen? Wenn ich in einer City lebte, wo das Wasser durch die Straßen plätschert und überall Obstbäume stehen, würde ich nicht fortgehen wollen.«
Madrone lächelte. »Vielleicht habe ich nicht gewußt, worauf ich mich einlasse. Vielleicht ist es ein Familien-Fluch. Die Göttin hat uns ausgewählt, hat uns diese Visionen auferlegt. Schickt uns, die Drecksarbeit zu tun. Was kann man da machen? Wenn du dir selbst treu bleiben willst, mußt du solchem Ruf folgen.«
»Bereust du es?«
»Bei jeder Mahlzeit, oder vielmehr bei jeder, die es hier nicht gibt! Aber im Ernst, es tut mir nicht leid. Was hier geschieht, ist sehr real. Es gib kein Ausweichen. Auch bei uns zu Hause im Norden geht der Kampf weiter. Ich muß hier wie dort kämpfen. Aber genug von mir, was ist mit dir? Du kommst mir ganz anders vor als die anderen? Wie bist du hierher gekommen?«
»Mein Vater und ich zogen hierher, nachdem die Millennialisten seine Kirche in Brand gesteckt hatten. Er pflegte zu sagen, die Armen seien die einzigen, die ihn wirklich brauchten. Das war damals, ‘32, als ich elf Jahre alt war. Alt genug, um ihm eine Hilfe zu sein. Wir begannen mit diesem Garten hier, als das Wasser noch nicht so knapp war. Und er fing an, die Leute zu organisieren. Übrigens sprach mein Vater kaum noch über Gott, seitdem wir hierher kamen. Er sprach fast nur noch von Essen und Wasser. Als ich ihn danach fragte, antwortete er, Essen und Trinken seien die Götter der Armen.«
»Amen!« schloß Madrone.
»Er starb fünf Jahre später. Ich war schon fast erwachsen. Ich konnte es kaum mit ansehen, wie die jungen Männer mit rostigen Gewehren in den Bergen herumliefen und sich als Revolutionäre bezeichneten. Ich war der Meinung, wir sollten hier etwas aufbauen und den Leuten zeigen, daß die Dinge sich auch ändern könnten. Und so bin ich nun hier.«
Katy schwieg, dann fragte sie: »Und du? Was müssen wir noch von dir wissen?«
»Ich bin müde«, sagte Madrone, »sehr müde, ich würde am liebsten den
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