Das Fünfte Geheimnis
einen lauten Befehl von der Kreuzung hinter ihnen.
»Meine Einheit«, flüsterte der Soldat hastig, »wir ziehen weiter.«
»Vergiß nicht«, sagte Bird, »das Angebot gilt.«
Der Soldat riß sein Gewehr hoch und rannte davon.
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Gespannte Ruhe lag über der City. Das Leben ging scheinbar seinen gewohnten Gang. Menschen arbeiteten in ihren Gärten, kochten Essen, aßen, wechselten den Babys die Windeln. Aber jeder blieb in der Nähe seines Hauses. Der Wochenmarkt blieb leer, auch die Cafés zur Abendstunde. Auf den Straßen sah man nur noch Soldaten, die ihren Weg durch das Labyrinth der schmalen Straßen suchen. Und die Soldaten schienen alle verblüfft, verfielen in staunendes Schweigen angesichts der vielen Früchte auf den Bäumen und der üppigen Blütenpracht in den Gärten.
Drei Tage lang war Sam wie jeden Tag morgens ins Spital gegangen. Am dritten Tag kam er schon am frühen Mittag wieder zurück. Die Stewards hatten das Krankenhaus besetzt und alle Zivilpatienten auf die Straße geworfen. Der Rat der Heiler hatte das vorausgesehen und jeden Patienten einem bestimmten Haus in der City zugewiesen. Lou und Aviva sorgten dafür, daß alles klappte und jeder gut untergebracht wurde. Sam war im Black Dragon House und kümmerte sich um die Küche.
»Es ist Krieg, okay«, knurrte er wütend. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber als dieser komische Kerl hereinkam und mich aus meinem eigenen Krankenhaus hinauswarf, da hätte ich ihn erwürgen können. In dem Spital habe ich schon gearbeitet, noch bevor dieser Knabe überhaupt gezeugt wurde. Ich würde ihm am liebsten einen Tritt in den Hintern geben und ihn dann zerreißen. Wie geht es übrigens deinem Kopf, Bird?«
»Gut«, sagte Bird schnell. In Wahrheit hatte er heftige Schmerzen. Er hatte sich gerade eine Tasse Kräutertee aufgegossen und wunderte sich, daß man ihm diese Arbeit noch erlaubte.
»Du sagst immer gut, auch wenn du halbtot bist«, konstatierte Maya.
»Mein Kopf ist okay«, entgegnete Bird. »Merkwürdigerweise fühle ich mich besser, jetzt, wo endlich etwas passiert ist. Wir brauchen nicht mehr zu warten. Sam, was ist mit diesen Boostern? Die Hälfte der Armee würde morgen schon zu uns überlaufen, wenn sie nicht Angst vor dem Entzug hätten. Wir häten es dann zwar immer noch mit der anderen Hälfte zu tun, aber die Überläufer wären in der Mehrzahl.«
»Ich habe gehofft, Madrone würde zurückkommen«, sagte Sam, »obwohl es vielleicht besser ist, wenn sie nicht da ist. Aber ohne genaue Kenntnis über die Drogen, die sie benützen, ist die Sache schwierig.«
»Vielleicht können wir es herausfinden?« sagte Bird gedankenvoll. »Überfallen wir sie und zapfen einem Soldaten Blut ab.«
»Ist das gewaltfrei?« spöttelte Sam.
»Okay, zapfen wir ihm das Blut doch sanft ab.«
Sam angelte sich sein Jackett vom Sofa.
»Wohin gehst du, Alter?« mischte sich nun Maya ein.
»Meine Patienten besuchen.«
»Sei vorsichtig.«
»Ich bin sogar sehr vorsichtig. Ich habe großes Interesse daran, uns siegen zu sehen.«
»Vielleicht siegen wir«, lächelte Bird, »vielleicht auch nicht.«
»Wir brauchen mehr als nur einen Sieg«, sagte Maya nachdenklich. »Wir brauchen einen Sieg, der alles verändert. Damit wir nicht wieder und wieder bedroht werden. Ich möchte dies alles nicht noch einmal erleben.«
»Ich werde sehen, was ich arrangieren kann«, sagte Sam und schloß die Tür hinter sich.
»Kommst du allein zurecht?« fragte Bird.
»Wohin willst du denn gehen?« staunte Maya.
»Zu einem der vielen Meetings.« Er beugte sich vor und küßte sie. »Ich weiß genau, was du mir nun alles sagen willst. Sag' es jemand anderem. Ich werde vorsichtig sein.«
Maya stand auf und streichelte seine Wangen. Sie hatte sich die Fingernägel verletzt als sie die Sicherheitsverschlüsse von den Schranktüren gerissen hatte, und das getrocknete Blut ihrer Finger hatten den gleichen Farbton wie das durchgesickerte Blut auf Birds Kopfverband.
»Aber ich möchte mit dir gehen«, sagte sie. »In meinen alten Kleidern steckt immer noch eine junge 19jährige Straßenkämpferin, die nicht begreift, wieso ausgerechnet sie zurückbleiben soll.«
Bird lachte. »Um sie vor Ärger zu bewahren. Und um deinen Ruf zu schützen. Was ist mit deinen großen Reden über gewaltfreien Widerstand, wenn du nun Steine nach den Soldaten wirfst?«
Er neckte sie. Doch statt zu lachen, füllten sich ihre Augen mit Tränen und ihre Lippen zitterten. Sie ist
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