Das Fünfte Geheimnis
alt, dachte Bird in jäher Erkenntnis, meinen Tod würde sie nicht überleben. Dieses Wissen setzte sich in ihm fest und belastete ihn.
»Aber ich kann sonst nichts tun«, weinte Maya. Bird umarmte sie und wiegte sie tröstend hin und her. Er konnte sie nicht wirklich beruhigen, das wußte er. Und er wußte gleichzeitig, daß er gehen würde, gehen mußte.
»Mach' ein Ritual«, sagte er freundlich, »das kannst du am besten!«
Sie nickte, als er durch die Tür schlüpfte. Aber später, als sie den Schutzkreis gezogen hatte und die Kerze in der Mitte brannte, kamen keine Geister. Nur das Wachs spritzte und tropfte. Nichts sprach zu ihr aus der leeren Luft.
Kapitel 23
Das könnte es sein«, sagte Madrone. Sie stand mit Hijohn auf einer der Seitenstraße, die sich vom Universitätsgelände den Hügel hochwanden. Die Gebäude der Universität lagen auf einem großen Gelände am Fuß der Hügel. Überall eilten Studenten und Professoren von einer Vorlesung zur nächsten. Boten trugen Akten von einem Institut zum anderen. Einige Bettler standen an den Eingängen und streckten flehend die Hände aus. Sie waren ähnlich schäbig gekleidet wie Madrone und Hijohn. Beide blickten auf ein rosa gestrichenes Haus am Ende des Platzes. Es war eines der vielen großen, komfortablen Gebäude, die hier die Straßen säumten.
»Das dritte Haus von der Ecke«, stimmte Hijohn zu, »das ist es.«
Eine Treppe führte zum Haupteingang. Doch Hijohn lotste Madrone zu einem kleinen Nebeneingang und klopfte vorsichtig. Die Tür öffnete sich nach einigen Augenblicken. Eine junge Frau im blauen Kleid führte sie in eine ausnehmend große Küche. Eine ältere Frau mit Schürze putzte gerade Gemüse. Sie blickte abschätzend auf die Besucher. Dann fuhr sie ungerührt mit ihrer Arbeit fort.
»Wir möchten gern Beth besuchen«, sagte Hijohn. Jetzt kam Bewegung in die Frau. »Oh, ihr kennt sie? Ich werde sie holen. Setzt euch.«
Madrone und Hijohn traten an den kleinen Tisch, der vor dem großen, raumhohen Fenster stand. Die Frau im blauen Kleid brachte jedem ein Glas Wasser, und Madrone dankte ihr. Nach dem heißen, beschwerlichen Weg von Katys Haus quer durch die vor Hitze flimmernde City waren sie für ein Glas Wasser dankbar.
»Was ist das für ein Haus«, fragte Hijohn, »wer lebt denn hier?« »Schwesternschülerinnen«, antwortete die Frau, »Miss Beth ist hier die Hausmutter.« Sie machte sich weiter in der Küche zu schaf
fen. Madrone und Hijohn schwiegen. Madrone war froh über die Ruhepause. Solche Wege durch die Stadt machten sie immer sehr müde, mehr als ein gleich langer Treck durch die Berge. Ich sollte mich inzwischen daran gewöhnt haben, schalt sie sich. Doch auch nachdem sie ihren Bienen-Sinn total abgeschottet hatte, empfand sie die Luft in der City als unerträglich, angefüllt mit dem Geruch von Schmutz, und überall lag der Dunst von Hunger und Unglück in der Luft.
Was Beth wohl von ihr wollte? Die Nachricht hatte sie über verschiedene Boten erreicht. Ja, sie erinnerte sich, Beth, das war die grauhaarige Dame, die sie bei Saras Lunch kennengelernt hatte. Jene Frau, die einmal Ärztin gewesen war. Wie würde ich das wohl verkraften, dachte Madrone, wenn mir mein Beruf als Heilerin plötzlich verboten würde? Wahrscheinlich würde ich trotzdem genau das machen, was ich jetzt ohnehin mache.
Hijohn hatte sich als Führer angeboten. Er war aus den Bergen zurückgekommen, zu einer jener Geheim-Missionen, die er offenbar erfand, um Katy besuchen zu können – so vermutete jedenfalls Madrone. Er kam erstaunlich oft, und dann konnten Katy und er kaum die Augen und Hände voneinander lassen. Bis sie sich schließlich über irgend etwas stritten, über Politik oder wie sie etwas zu essen bekommen könnten und Hijohn grollend wieder verschwand .
So war es auch jetzt wieder gewesen. Hijohn wollte fort. »Ich begleite dich«, sagte er, »und dann können wir gleich mal bei den Camps in den Bergen vorbeischauen und sehen, wie es dort läuft.« Madrone hatte zugestimmt, obwohl sie genau wußte, daß das einen Zwanzig-Meilen-Marsch durch die Berge bedeutete. Und das in der Frühsommerhitze.
»Madrone, du bist es!« Betty kam hereingeplatzt. Sie schloß die Tür und umarmte Madrone. »Vielen Dank, daß du gekommen bist. Laßt uns in mein Zimmer gehen. Da ist es gemütlicher.«
Sie folgten ihr eine Treppe hinunter. Der Raum war mit alten Teppichen und Sofas ausgestattet, einfach und bequem. Es erinnerte Madrone an das Zimmer,
Weitere Kostenlose Bücher