Das Fünfte Geheimnis
versuchte, Bird zu folgen. Aber er war verschwunden. Nicht tot, dachte sie, aber er war nicht erreichbar. Es war Rios Stimme, die sie schließlich hörte.
»Laß es«, sage er. »Du kannst ihm damit nicht helfen. Sein Zustand wird nur noch schlimmer, wenn er fühlt, daß du in der Nähe bist.«
»Kannst du ihm nicht helfen?«
»Möglich. Ich werde da sein und tun, was ein Geist eben tun kann. Aber laß du ihn in Ruhe. Laß ihm seine Würde.«
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Sam nahm den Deserteur mit nach Hause. Der älteste der Cooper-Jungs hatte ihn zusammengekauert und schlotternd vor Angst hinterm Kompostsilo gefunden. Die Coopers hatten ihm T-shirt und Jeans statt der Uniform gegeben und ihn zu Sam geschickt, der in einem nahegelegenen Haus eine provisorische Notaufnahme errichtet hatte. Mehrere Leute hatten Streifschüsse, ein Mann einen Schultersteckschuß. Lan und Roberto waren die einzigen Todesopfer. Kurz vor Morgengrauen brachte Sam den Deserteur durch die leeren Straßen zum Black Dragon House.
Maya hatte nicht geschlafen. Sie hatte die gerösteten Körner aufgebrüht, von denen Sam sagte, sie schmeckten wie Kaffee, und schenkte den beiden Männern mit automatischen Bewegungen ein. Sie versuchte, nicht an Bird zu denken und nicht an fallende Körper. Die Hände des jungen Mannes zitterten, seine Blicke irrten nervös durch die Küche, und seine Haut hatte einen fahlen Unterton.
Maya machte sich von ihren Ängsten frei und lächelte ihn aufmunternd an. »Alles wird gut«, sagte sie. »Du hast richtig gehandelt. Wie heißt du?«
»Larry, Ma'am.«
»Nenn mich nicht Ma'am. Sag einfach Maya. Kann ich dir etwas zu essen machen? Wir haben keine große Auswahl, aber ich könnte dir Bratkartoffeln und Rühreier anbieten.«
»Irgendwas, Ma'am, ist egal.«
»Was du getan hast, wissen wir zu schätzen.«
»Ich mußte es einfach tun. Konnte doch nicht zusehen, wie er das kleine Mädchen killt. Ich bin nicht aus den Aufzucht-Lagern, wie die anderen. Ich komme aus einer Familie, hatte eine Mutter und Schwestern.«
»Was für Aufzucht-Lager?« fragte Maya und erhitzte Öl in einer Pfanne. Sie wollte gut sein zu diesem jungen Mann, der Birds Leben gerettet hatte – einerseits aus Dankbarkeit, aber auch, weil sie einen kleinen Handel mit dem Schicksal im Sinn hatte. Ich bin gut zu ihm, Göttin, sei du gut zu Bird.
»Da werden Soldaten gezüchtet, Ma'am.«
»Gezüchtet?«
»Darum haben sie soviele. Die Hälfte kommt aus den Zucht-Stationen.«
»Du meinst, die züchten sie wie... Vieh?« fragte Sam und setzte sich mit seiner Tasse zu Larry.
»Sie haben keine Seelen, so wie richtige Menschen. Darum ist es auch keine Sünde, sie zu züchten.«
»Das mußt du genauer erklären.«
»Wenn eine Frau ihre unsterbliche Seele verliert...«
»Wie könnte das geschehen?«
»Irgendwie, zum Beipiel, wenn sie Wasser klaut oder die Reinheiten verletzt.«
»Ich fürchte, darüber wissen wir nichts«, sagte Maya. »Das mußt du uns alles erklären. Was sind das für Reinheiten?«
»Wissen sie, moralische Reinheit, rassische Reinheit, Reinheit der Familie und spirituelle Reinheit. Sagen wir mal, sie geht mit einem ins Bett, mit dem sie nicht darf. Oder jemand kriegt raus, daß sie die Inkarnation befragt. Wenn sie jung und hübsch ist, kommt sie als Unterhaltungsgirl zur Truppe. Ist sie schon älter, wandert sie direkt in die Zucht-Station und muß Soldaten gebären .«
»Ich kann das nicht glauben. Mit welcher Rechtfertigung tun sie das?« fragte Maya.
»Jeder hat die Wahl, seine unsterbliche Seele zu bewahren oder wegzuwerfen, Ma'am. Außer, wer aus den Zucht-Stationen kommt und gar nicht erst eine hatte. Aber von dem, der seine Seele durch Sünde zerstört, bleibt als einzig Wertvolles der Körper übrig. Und
dieser Körper wird zum höheren Wohl des Volkes eingesetzt.«
»Glaubst du daran?« fragte Sam.
Larry zuckte die Schultern. »Ich habe meine Seele weggeworfen, als ich Wasser für meine Familie gestohlen habe. Die Seele mag unsterblich sein, aber der Körper ist es nicht. Er muß trinken. So bin ich in der Armee gelandet. Wenn du in Friedenszeiten erwischt wirst, landest du im Gefängnis oder im Arbeitslager. Im Krieg kommst du gleich zur Armee. Ich weiß nicht, ob ich eine unsterbliche Seele habe
– aber wer arm ist, hat sicher nur eine ganz dünne.« »Ich glaube, du hast eine Seele«, sagte Maya, die das Rührei zube
reitete, »das hast du heute bewiesen.«
»Sie sagen, ihr habt keine Booster, stimmt
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