Das Fünfte Geheimnis
kam der Moment, an dem die Pein einen absolut unerträglichen Gipfel erreichte. Etwas zerbrach in ihm, schmolz in der glühenden Hitze der Torturen. Ich zerbreche, analysierte sein Gehirn klar und kalt. Durch geschlossene Augenlider sah er die zerfurchten, lächelnden Züge einer alten Frau über sich. La Serpiente, la Segadora, die Grosse Schnitterin, Mutter, weiter kann ich nicht mehr gehen. Noch einen Atemzug und ich vergehe für immer.
»Antworte uns!«
Er konnte nicht mehr. Sein Körper wiedersprach dem letzten Rest Willen, der ihm noch geblieben war. Er würde jetzt reden, ein Geräusch machen, irgend etwas sagen, nur um den Schmerz von sich zu schieben. Und wenn er anfing zu reden, wie sollte er wieder aufhören, wie die Lippen verschließen, nur gewisse Dinge sagen und andere nicht? Er konnte nicht sterben und wenn er starb, würden sie nur jemand anderen nehmen. Wenn er versuchte, dem Schmerz zu entgehen, würde ein anderer dran glauben müssen. Nein, sie mußten jemanden zerbrechen – warum dann nicht ihn. Er war ohnehin schon ruiniert. Oder waren das nur seine Ausflüchte? Maya, Abuela, Lily, Madrone, es tut mir leid!
Er redete. Und nachdem er einmal damit angefangen hatte, erzählte er, erzählte alles, was sie wissen wollten. Und er erlitt neue Qualen. Frage auf Frage folgte, und obwohl er auszuweichen suchte, wußte er doch, daß er alles erzählen würde. Erzählen, um sich etwas Aufschub zu erkaufen. Wovor und wofür? Sinnlosen Aufschub. Er erzählte ihnen, daß sich der Verteidigungs-Ausschuß aus neun alten Frauen zusammensetzte, die sich irgendwo versteckt hielten. Er wußte nicht, wo. Wirklich nicht, da halfen auch noch so ausgeklügelte Tortouren nichts. Innerlich frohlockte Bird. Er hätte es unter dem Ansturm der körperlichen Qualen erzählt. Er erklärte seinen Peinigern die Strategie der City, nicht zu kooperieren. Er verriet, wie die Organisation funktionierte, wie die Arbeit aufgeteilt wurde, wie das Versorgungsnetz funktionierte, wie Fische in Wassertanks gezüchtet wurden. Er erzählte – alles und jedes. Was er über die Heiler wußte. Wie die City die letzte Epidemie überwunden hatte. Er nannte Namen, Namen, Namen. Er nannte Madrone. Nach allem, was bisher geschehen war, würde sie nie gefunden werden.
Immer neue Fragen kamen, und mit ihnen kam die Erschöpfung. Wie lange hatte er nicht mehr geschlafen? Wichtig war nur, daß es seinen Peinigern gefiel, daß sie ihm glaubten. Sie taten es nur zum Teil.
»Ihr habt eure Daten-Basis zerstört.«
»Nein, haben wir nicht.«
»Du lügst. Nichts funktioniert. Kein einziger Computer reagiert auf unsere Befehle.«
»Nein, nein, unter Streß arbeiten unsere Computer nicht. Sie funktionieren anders.«
»Wie meinst du das?«
»Ich bin kein Techniker. Ich kann es nicht richtig erklären. Kann ich etwas Wasser haben...?« Früher, erinnerte sich Bird, als er noch seine Seele hatte, hätte er Essen und Trinken unter diesen Umständen verweigert, und nun bettelte er wie ein hungriges Kind darum.
»Antworte!«
»Ein bißchen Wasser...«
Sie drückten ihm eine Tasse in die Hand. Er konnte nichts sehen, vielleicht hatte er auch nur die Augen geschlossen, er wußte es wirklich nicht mehr, und das Wasser schmeckte nach Blut. Es rann kühl über seine Zunge und brachte ihm die ersehnte winzige Atempause. Vielleicht war es trotzdem dumm, um Wasser zu bitten, denn nun hatte er etwas, das sie ihm wegnehmen konnten, etwas, um das er fürchten mußte.
»Die Daten-Basen?«
»Sie bestehen aus Kristallen«, flüsterte Bird kaum hörbar, »und die Kristalle haben ihr eigenes Bewußtsein. Sie kooperieren mit uns, aber nur so lange sie wollen. Wir können das nicht beeinflussen.«
»Ihr kooperiert mit Kristallen? Mit Steinen?«
»Ja, so ist es. Unsere Tecchies haben lange meditiert, bevor sie begannen, das Programm auszuarbeiten. Es ist wirklich nicht einfach zu verstehen.«
»Du lügst.«
»Es ist wahr. Ich schwöre es!«
Er war jenseits seiner Leidensfähigkeit und doch mußte er noch mehr aushalten. Bis sie des Fragens leid waren.
»Was ist mit der Geheimwaffe?«
»Welche Waffe?«
»Die geheime Waffe, die euch soviel Zuversicht gibt.«
»Wir haben keine Geheimwaffe.«
»Lüg' nicht. Das alte Weib hat uns davon erzählt.«
»Welches alte Weib?«
»Deine krebskranke Freundin, die mit dir zusammen gefangen genommen wurde. Wir haben hier eine Kraft, die ihr niemals vernichten oder verstehen könnt, hat sie gesagt. Welche Kraft meint
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