Das Fünfte Geheimnis
neben ihm hörten zu, und es war auch nicht die Wahrheit. Er würde fast allem zustimmen, nur um Rosa zu schützen. Nein, nein, sagte er sich, auch um sich selbst vor weiteren Folterungen zu schützen. Lily starrte ihn an, als könnte sie seine Gedanken lesen.
»Würdest du etwas für mich tun, Lily?« sagte er schließlich.
»Wenn ich kann.«
»Lege bitte ein paar Blumen auf das Grab meiner Großmutter. Sag ihr, daß es mir leid tut, weil ich nicht stärker war.« Er betete zur Göttin, Lily möge verstehen, was er meinte. Er hatte den Stewards erzählt, seine Familie sei tot. Dies sei eine Grundvoraussetzung gewesen, Mitglied des Councils zu werden. So konnten keine Geiseln genommen werden, um etwas von ihnen zu erzwingen. Bitte, Göttin, laß Maya fort bleiben. Wenn sie Maya fänden, wenn sie herausfanden, wer sie war...
»Niemand ist auf Dauer stark«, sagte Lily, und ihre Stimme klang weich. »Ich bin sicher, du hast viel ertragen und wirst noch mehr ertragen müssen. Ich wünschte, du könntest verschont bleiben und geheilt werden.«
Sie bot ihm Vergebung an, Vergebung, die er nicht verdiente und nicht akzeptieren konnte. Nicht weil er schwach geworden war, jeder konnte schwach werden, sondern weil er weiter schwach sein würde und sie weiter betrügen würde.
»Ich hätte sterben sollen, wie Roberto, wie Lan. Und Marie ist nun auch tot.«
»Laß deine Peiniger dir Schmerz zufügen, Bird. Aber tu es nicht selbst.«
Bird wünschte sich, er könnte in ihren Augen lesen, irgendetwas, Bedauern, Verurteilung, Mitleid. Aber ihre schwarzen Augen waren ausdruckslos wie Kieselsteine.
»Wir haben einen Platz für dich an unserer Tafel gedeckt, Bird. Wir warten auf deine Heimkehr.« Sie wandte sich an die Wachen und lächelte: »Das gilt auch für euch.«
Sie dreht sich um und ging. Ihre Worte waren schmerzhafter als ein Tritt in den Bauch. Sie machte ihn, wozu er sich selbst gemacht hatte – zum Feind, zum Fremden.
✳✳✳
Als er am nächsten Morgen zur Plaza kam, wartete ein kleiner Kreis von Menschen neben dem Brunnen. Lily, Sam und Cress vom Wasser Council und eine Frau, die er nicht kannte. Als er näher kam, öffnete sich der Kreis für ihn.
Bird stoppte. Er wurde von seinen Wachen begleitet. Mit einer Bewegung forderte er sie auf, zurückzubleiben. Dann trat er wiederstrebend in den Kreis. Wie konnte er mit ihnen zusammensein, in der Uniform des Feindes? Doch es gab Dinge, die mußte man einfach tun, ob man wollte oder nicht. Nicht denken, bloß keine Vorstellung entwickeln, was sie über ihn denken könnten, einfach nur hinsetzen und ihnen nicht in die Augen schauen.
»Bird!« sagte Sam.
»Du lebst!« sagte Cress. Es klang wie ein Vorwurf. Cress sah viel schmaler aus, als Bird ihn in Erinnerung hatte. Graue Strähnen durchzogen sein schwarzes Haar, und unter seinen Augen hatte er dunkle Schatten.
»Ich bin hier als Repräsentant der Vierten Steward Erkundungs-Truppe. Sie haben mich um Vermittlung gebeten.« Birds Stimme klang rauh, er wußte nicht warum. Vielleicht vom vielen Schreien, vielleicht weil seine Kehle trocken war wegen der spärlichen Wasserration.
»Du kooperierst mit denen?« fragte Cress, »du hast unsere Strategie verraten!«
»Ich weiß.« Nur nicht entschuldigen, nur nichts erklären. Das brachte nichts.
»Du hast doch im Council die großartigen Reden geschwungen über gewaltlosen Widerstand! Du wolltest nicht töten, hast du gesagt. Und alle waren so verdammt beleidigt, als ich auch nur eine Frage stellen wollte. Und nun trägst du ihre Uniform!«
»Ich arbeite für sie«, sagte Bird mit tonloser Stimme, »ich verteidige mich. Ja – so ist das!«
Stille senkte sich über den Kreis. Die beiden Wachen beobachteten argwöhnisch die Szene.
»Bist du okay?« fragte schießlich Sam. Seine Falten waren tiefer geworden, er war sichtlich gealtert in den vergangenen Wochen.
Bird wußte nicht recht, was er ihm antworten sollte. »Sie haben mir diesmal nichts gebrochen«, erwiderte er in einem Ton, der weitere Fragen ausschloß. Außer mein Selbst, dachte er.
»Haben sie dich verletzt«, ließ Sam nicht locker.
»Das ist es, Sam. Sie verletzen die Menschen. Und sie verstehen ihren Job.«
»Du siehst okay aus«, kam es mißtrauisch von Cress.
»Du auch«, gab Bird zurück. Das ist boshaft, dachte er, aber es erleichterte ihn, er fühlte sich nicht mehr so elend. Gleichzeitig verstand er nun genau, warum seine Peiniger so sorgfältig mit ihm umgegangen waren. Sie wünschten
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