Das Fünfte Geheimnis
sie zurück?«
»Erst in ein paar Wochen.«
»Sie sollten hier unten sein bei dir. Das Haus ist leer ohne sie.«
»Sie können ihre Versuchsteiche nicht verlassen, bevor ihre Experimente nicht vollständig durchgeführt worden sind. Du solltest mehr Anerkennung für ihre Anstrengungen zeigen.«
»Wie soll ich 57 neue Wasserbakterienarten anerkennen?«
»Bakterien, die Gift neutralisieren, können bedeuten, daß deine Nachfahren eines Tages wieder Muscheln aus der Bucht essen können, sollte jemand von uns die nächsten zwanzig Jahre überleben, was ich für immer unwahrscheinlicher halte.«
»Alle sind so pessimistisch heutzutage«, beschwerte sich Maya, »selbst die Geister halten das Schicksal geheim.«
Madrone lächelte. »Ist das nicht das Vorrecht der Geister?«
»Vielleicht, aber es beunruhigt mich, dich so niedergeschlagen zu sehen.«
»Ich fühle mich einfach schlecht wegen Counselo, wegen Sandy. Ich fühle mich, als sei es alles mein Fehler. Als wäre ich schuld an ihrem Tode.«
Maya streichelte ihren Arm. Es fiel ihr wirklich nichts ein, was sie hätte sagen können.
Auch sie fühlte sich schlecht, dachte sie an jeden einzelnen Toten, den sie gekannt hatte, angefangen bei Sandy bis hin zu Cameron Graham Rosenthal, der vor sechs Jahren an Aids starb, als das Haus noch in zwei verschiedene Wohnungen geteilt war. Ja, sie vermißte ihn immer noch, vermißte es, sich schick anzuziehen und mit ihm durch die Einkaufsviertel und Kneipen zu schlendern und spöttischwitzige Kommentare zu machen, über all die jungen hübschen Männer, an denen sie vorbeikamen. Sie hatte damals von Johannas Wohltätigkeit gelebt, gerade zurück aus Mexiko. Und versucht, ein Buch zu schreiben. Und die hübschen jungen Männer hatten sich noch nicht in lebende Skelette verwandelt, fleckig von einer geheimnisvollen Krankheit. Lagen noch nicht nach Luft ringend im Sterben.
»Ich wünschte, ich könnte dir helfen«, sagte Maya.
»Das tust du, Madrina, du hilfst mir sehr.« Madrone schloß ihre Augen. Wirklich, sie konnte schon fast wieder in Trance sinken, hier in der Sonne, Mayas Hand beruhigend auf der Schulter. Wenn man müde genug war, dachte Madrone, waren die Welten der Ruhe, die Welten des Ch'i nur einen Atemzug entfernt. So wie gestern, als sie neben Counselos Sarg gewacht hatte, umgeben von brennenden Kerzen im Schwesternzimmer. Die kleine Rosa war hereingekommen, feierlich mit einem riesigen Blumengesteck aus Lilien.
»Es tut mir leid«, hatte Madrone zu ihr gesagt, »es tut mir so leid.«
»Es ist nicht dein Fehler«, hatte Rosa unter Tränen gestammelt.
Nicht mein Fehler, aber meine Unzulänglichkeit, dachte Madrone, während sie sich setzte, um Wache zu halten. Ihren Blick starr auf den Sarg gerichtet, ließ sie sich langsam in Trance sinken, bewegte sich im Geiste durch das Holz der Kiste, bis sie mit ihrem inneren Auge sehen konnte, wie der Körper von Licht umspielt, sich von seiner Energiehülle trennte. Spuren von Counselos Geist, ein Abglanz ihrer Persönlichkeit, verwehten langsam. Madrone roch Gefühle, Ärger, Empörung, ein Gefühl des Betrogenwordenseins, die kränkende Überraschung eines plötzlichen Todes. Schweiß perlte auf ihrem Gesicht, und befahl sich, tief durchzuatmen, noch tiefer zu sinken. Dies war der schlimmste Zustand, und sie konnte ihn nur durchleben, indem sie sich immer wieder sagte: »Es ist nicht mein Schmerz, nicht mein Leid.«
Immer weiter sank sie hinunter. Und ja, da war noch etwas anderes – diese schwer definierbare Sache, diese Krankheit, die sie schon wahrgenommen hatte, als Sandy starb. Aber was war es? Konnte eine Mikrobe eine Persönlichkeit haben? Oder übertrug Madrone menschliche Verhaltensweisen auf nichtmenschliche Dinge? Wenn sie nur verstehen könnte, was es war, diesen Krankheitserreger bestimmen könnte, lernen könnte, wie er sich ausbreitete und wie er zu bekämpfen war. Sie konnte ihn dann verfolgen, ungeduldig wie jeder Jäger. Aber was gab es da zu wittern, außer undefinierbaren Spuren in der Luft, Veränderungen im Energiefeld der menschlichen Körper?
Es war kein Grippevirus und nichts, was irgendwie ins Muster der alten HIV-Reihe oder in die durch bekannte Bakterien übertragenen Krankheiten, wie Syphilis oder die Lymekrankheit paßte. Solche Krankheitserreger hatten alle ihre charakteristische Handschrift im Energiebereich, und Madrone konnte sie genauso gut erkennen, wie sie Beifuß oder Schwarzwurz im Garten bestimmen konnte. Nein, dies war
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