Das Fünfte Geheimnis
Stimmen von Luft, Feuer, Wasser und Erde kanalisierten.
»Möge das Gleichgewicht wieder hergestellt werden«, murmelte Madrone. Es war üblich, diese Worte zu sprechen, in Gegenwart der vier Heiligen Dinge und auch dann, wenn man einen heiligen Ort betrat oder verließ. Sie sagte es fast tonlos, um die Versammlung nicht zu stören.
Sie ließ sich auf ein Sofa gleiten, neben eine knochige farbige Frau mit kurzen Haaren, die Muskeln hatte, wie ein Bauarbeiter. Die Frau blinzelte ihr zu.
»Ich bin Surya«, sagte sie. »Tischler-Gilde.«
»Madrone von den Heilern«, antwortete sie und fühlte einen Funken Sympathie überspringen. Doch sie war zu erschöpft, sich weiter darum zu kümmern. Sie versank in Trance, kaum daß sie saß, und für ein Council-Meeting war das völlig unpassend. Aber als sie sich im Saal umsah, konnte sie nur Energien sehen, Erde und Luft, Feuer und Wasser, geronnen zu Knochen und Atem, Nerven und Blut. Sie traten in Erscheinung und entschwanden wieder in Formlosigkeit.
Sie durchwebten die Farben des Lichts, das durch die Deckenfenster flutete und die einzelnen Strahlen, die durch die Türritzen drangen. Sie spielten in dem genetischen Vermächtnis der Ahnen, das die Versammlung ringsumher reflektierte mit Hautfarben und Körperbau und mit der Beschaffenheit der Haare. Osten, Süden, Westen, Norden: Europa, Afrika, Asien, die Inseln, Nord- und Südamerika. Alle Wasser der Welt waren über dieses geistgetränkte Land geflossen, und alle hatten etwas an Land gespült. Elfenbein, Sepia, Ocker, Umbra, Ebenholz, Kohle, Siena - eine Palette von Erdtönen, wie aus dem Farbkasten eines Malers.
Es bedeutete Glück, wenn Kinder von Ahnen aus allen Himmelsrichtungen beisammen saßen und der Kreis geschlossen war.
Etwa fünfzig Leute waren heute versammelt und diskutierten darüber, Sonnen- und Mondkalender wieder in Einklang zu bringen, ein Tagesordnungspunkt, zu dem Madrone nichts beizutragen wußte.
Salal, die heute Leiterin der Versammlung war, nickte Madrone zu, um ihr zu zeigen, daß sie ihr Kommen wahrgenommen hatte. Sal hatte eine besondere Begabung, ausgleichend zu wirken, und Madrone war froh, sie dort zu sehen. Sal sah ruhig und gelassen aus, wie immer, ihre Beine hatte sie graziös übergeschlagen. Ihre knallrot gefärbten Haare standen in flammenförmigen Büscheln vom Kopf ab. Ihre dunklen Augen sprangen pfeilschnell im Raum umher, um die Stimmung in der Versammlung abzuschätzen. Salal war nicht so leicht einzuschüchtern oder aus der Ruhe zu bringen, auch nicht unter Streß.
Ich mache nur kurz meine Augen zu, um mich etwas auszuruhen, sagte Madrone zu sich. Das Geräusch der Stimmen und die fliegenden Hände der Sprecher, die das Gesagte simultan in Gebärdensprache übersetzten, wirkten hypnotisch. Die Hauptdiskussion wurde zwar in Englisch geführt, doch gleichzeitig wurde auch in Spanisch, Mandarin, Arabisch, Kantonesisch und Tagalog gesprochen. Jedes Quartier in der Stadt hatte eine eigene Muttersprache, die kultiviert wurde. Nachdem der weltweite Verkehr zusammengebrochen war und die Stewards nach zwanzig Jahren immer noch den Funkverkehr blockierten, wußte niemand, was in Kanton oder Kairo, Manila oder Mexiko los war. Die Quartiere der City waren möglicherweise die letzten Reservate dieser Sprachen und Kulturen.
Vom Stimmengewirr eingeschläfert träumte Madrone, die Kuppel-Halle sei das Herz der City mit seinen vier Herzkammern. Sie ruhte darin, konnte den Puls fühlen, den Herzschlag in sich aufnehmen und auf das lauschen, was verborgen in den Venen pulsierte, Spirochäen, Parasiten und Viren. Oh, die Stärke, die Vitalität war trügerisch. Sie konnte hören, was im Untergrund summte, wie die eine einzige Mücke im Raum, die das Einschlafen unmöglich macht.
»Madrone?«
Ihr Name riß sie aus ihren Träumen. Sie öffnete die Augen. Salal schaute sie erwartungsvoll an.
»Kannst du uns vom Treffen der Heiler berichten? Was ist los mit dieser gegenwärtigen Epidemie, wie gefährlich ist sie?«
Madrone erhob sich, um zu sprechen. Sie sah in Augen jeglicher Form und Farbe, und alle waren auf sie gerichtet. Sie starrte zurück. Auf diese Weise schaute sie manchmal eine Mutter an, wenn sie ihr fest in die Augen sehen mußte, um ihr zu sagen, daß ihr Kind nicht am Leben bleiben würde. Sie konzentrierte sich dann auf die Augenform und die Farbe der Iris, auf die Art, wie das Lid geformt war oder wie die Wimpern aus dem Lid herauswuchsen. Auge nach Auge, jedes ein kleiner
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