Das Fünfte Geheimnis
Stimme. Sie sprach langsam. „Wir wollen dich eine oder zwei Wochen hier behalten, bis dein Immunsystem sich von den Boostern erholt hat. Und danach, nun, das kommt darauf an...“
Sie sah Entsetzen in seinem Gesicht.
„Wir werden dich nicht quälen, Nullneun.“
Er sah sie überrascht an: „Wieso nicht?“
„So etwas machen wir eben nicht.“
„So etwas machen aber alle.“
„Wir nicht.“
„Was macht ihr denn?“
„Wenn du gesund wirst, kannst du mit uns zusammen arbeiten, dann kannst du uns helfen.“
„Euch helfen, wie denn?“
„Uns helfen, euch alle zu verstehen.“
„Wozu denn?“
„Damit wir uns schützen können, und euch alle auch.“
„Wie meinst du das?“
„Ich meine, es ist wirklich ein Platz für dich frei an unserem Tisch, wenn du das möchtest. Ich meine, daß du in dieser City leben könntest, und der Rest von deiner Einheit auch. Genug zu essen und zu trinken, und keiner befiehlt euch, Menschen zu töten. Wir haben hier viel Arbeit, aber es ist sicher wert zu arbeiten, Dinge zu schaffen, Dinge, die wachsen. Und du hast deinen eigenen Namen, nicht einfach nur eine Nummer. Du würdest respektiert, wenn du Respekt verdient hast.“
„Ich glaube dir gar nichts.“ Nullneuns Gesicht war leer.
„Du mußt mir schon glauben, denn nun werde ich dir einen Namen geben.“
„Ich komme aus einem Gefängnislager. Dort gibt es keine Namen. Nur weiße Boys bekommen einen.“
„Aber jetzt bist du ein Teil von uns. Alle in dieser City sind sozusagen Teil einer Einheit. Wir alle bilden eine Einheit, und alle haben einen Namen.“
„Was für einen Namen wirst du mir geben?“
Seine schwarzen, runden Augen erinnerten sie plötzlich an ein Kindergesicht. Das ist die Woche der Namensgebungen, dachte sie. Zuerst das Baby, und nun dieser Mann. Er sollte einen schönen Namen haben, nicht irgend etwas, was er womöglich gar nicht richtig aussprechen konnte. Vielleicht sollte sie ihn nach Rio nennen. Nach Rio, der auch getötet hatte, und wie Maya erzählte, öfter mal in Rage geraten war. Rio hatte sich verändert, und dieser Mann konnte sich vielleicht auch verändern.
Aber Rio – da würde sie immer an ihren Großvater denken müssen. Sie konnte ihn nicht Rio nennen. Aber wenn man den Namen übersetzte...?
„River, ich nenne dich River. Das ist die Bezeichnung für einen großen Strom, der frei und kräftig dahinströmt.“
„River? Ist das mein Name?“
„Er paßt zu dir“, lächelte Madrone.
„Du hast mir einen Namen gegeben.“
„Es ist jetzt deiner. Niemand kann ihn dir wegnehmen.“
„River“, wiederholte er. Seine Lippen formten ein vorsichtiges Lächeln, und für einen Moment sah er ganz jung aus, wie ein kleiner Junge. Dann verlosch sein Lächeln wieder. Seine Augen öffneten sich, gequält, verletzlich.
„Wie weiß man denn, zu wem man gehört?“ fragte er. „Wie weißt du, wer deine Leute sind? Bird – kennst du Bird?“
„Er war mein Liebster“, antwortete Madrone.
„Dieser Bird, er hat viel über die Leute der City erzählt. Viel Mist, vermutlich.“
„Vielleicht auch nicht.“
„Es hörte sich ganz gut an. Es klang gut, was er uns erzählte. Und dann kam dieser Tag, du weißt, welchen Tag ich meine?“ Madrone nickte, und er sprach weiter. „Wir hatten den Befehl zu töten. Irgendwelche Leute zu töten, die uns in die Quere kamen. Ich habe nicht darüber nachgedacht. Ich erschoß einen, und dann noch einen. Doch dann kamen immer noch welche. Zu blöde, Mensch, ich dachte, das wäre das Blödeste auf der Welt. Ich schoß wieder und wieder. Ich konnte Bird hinter mir fühlen. Er wollte das nicht. Na ja, es sind seine Leute, dachte ich. Und dann fiel mir ein, wer sind eigentlich meine Leute? Das hatte ich mich vorher niemals gefragt, und ich konnte darüber lange nicht nachdenken. Ich sah diese Kleine, und ich dachte, woher weiß ich, wer sie ist? Ich weiß doch nicht mal, wer ich bin. Ich habe nie vorher daran gedacht, daß ich jemand sein könnte. Sie sah aus wie ich, vielleicht gehört sie zu meinen Leuten, und ich weiß es nur nicht? Ich konnte sie einfach nicht töten.“
„Nein“, sagte Madrone sanft, „das konntest du nicht, und ich bin glücklich darüber.“
„Vielleicht habe ich ja schon meine eigenen Leute getötet. Vielleicht bin ich deswegen schon verdammt und verhext. Wer will das wissen. Ich hab' niemals vorher über sowas nachgedacht, und nun kann ich nicht aufhören, drüber nachzudenken. Woher komme ich eigentlich? Wer
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