Das Fünfte Geheimnis
Wasserbehälter mit einer Linse davor.
»Es ist schlimm. Sehr schlimm!« Madrone sprach, wie alle anderen, die vor der Versammlung sprachen, Englisch, das mit Handzeichen verstärkt wurde. »Es beginnt mit erhöhter Temperatur, wie eine leichte Grippe. Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, Bluthochdruck. Bei einem kleinen Prozentsatz der Patienten ist das alles, und nach einer Woche erholen sie sich. Die meisten aber gehen durch eine Krisis. Das Fieber schnellt urplötzlich so hoch, daß es Gehirnschäden oder auch den Tod verursachen kann, besonders bei Kindern. Und für Schwangere ist die Krankheit einfach ein Desaster. Das hohe Fieber schädigt den Fötus, selbst wenn das Kind überlebt, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit behindert zur Welt kommen.« Das waren die Fakten. Doch Madrone fühlte, daß es nötig war, noch mehr zu sagen. »Wir haben es in den vergangenen Jahren mit einer Menge Krankheiten zu tun gehabt, eine Epidemie nach der anderen, auch wenn sie alle nicht so heftig waren, wie die im Jahre '38. Die gegenwärtige Epidemie aber lehrt uns das Fürchten.« Sie wußte, daß der kontrollierte Ton, in dem sie gesprochen hatte, vieles mildern konnte, aber ihre Hände konnten ihre Emotionen nicht verbergen. »Ich würde niemals sagen, daß es uns nicht ängstigt. Dies ist die schlimmste Sache, mit der wir seit zehn Jahren zu tun haben.«
Stille.
Wenn Madrone sagte, daß sie Angst hatte, wußten alle, daß es wirklich schlimm stand. Normalerweise wartete man auf ihre beschwichtigenden Worte.
»Habt ihr versucht, die Ursachen herauszufinden?« fragte Sal.
»Wir befürchten, es handelt sich erneut um einen mutierten Virus, aber wir wissen es nicht. Keines unserer Anti-Virenmittel schlägt an und auch sonst kein Medikament.«
Wieder Stille.
»Macht es Sinn, die Schwangeren zu evakuieren?« fragte jemand.
»Wohin denn?« gab Madrone zurück. »Das verdammte Ding ist flußauf fast zum gleichen Zeitpunkt aufgetreten, wie hier.«
»Was schlägst du denn vor?«
Am liebsten hätte sie gesagt: Tut irgendetwas, alles, was ihr schon immer gern tun wolltet, aber tut es schnell, so lange ihr noch könnt. Eßt unreife Trauben, laßt eure Vögel frei. Aber das konnte sie nicht sagen. Geisteraugen starrten sie an. Madrones einzige Antwort waren ihre hilflos in die Höhe gereckten Hände – nur für die Blinden fügte sie noch hinzu: »Ich weiß es nicht!«
»Welche Unterstützung braucht ihr Heiler vom Council?« fragte Sal.
Eine wunderbare Marienerscheinung. Eine blutende Statue mit heilenden Kräften. Eine Curandera mit Kräutern, die nur die Indianer kennen. Eine Wunder-Droge.
»Wir sind okay, denke ich«, sagte Madrone. »Wir könnten noch eine Hilfskraft gebrauchen, die uns bei der Kräuterzubereitung hilft, jetzt, da Sandy nicht mehr da ist.«
»Wir finden jemanden«, rief eine Frau.
»Wie sieht's mit persönlicher Unterstützung aus?« fragte Surya, die neben Madrone saß. »Du siehst ganz schön fertig aus.«
»Ich bin nur müde. Zu wenig Schlaf. Aber das hab' ich ja gewußt, bevor ich Hebamme wurde.«
»Alle Heiler, die ich kenne, sehen genauso aus«, sagte ein junges Mädchen »Wir können sicher keine Wunderkur anbieten, aber wir könnten euch doch von anderen Arbeiten entlasten. Eure Gärten und eure Haushalte.«
Madrone wollte protestieren, doch eingedenk des Zustandes von Black Dragon House hielt sie den Mund. Der Garten war verwildert, seit Sandy tot war. Und hundert Sachen waren liegengeblieben, zu denen sie nicht kam.
Eine Frau mit gelbem Kopftuch, die Madrone vom Central-Market her kannte, sprach jetzt: »Und nicht nur die Heiler, auch die Kranken brauchen Hilfe, und ihre Haushalte auch. Ich weiß nichts über euch alle, aber auf dem Weg hierher habe ich eine Menge heruntergekommener Gärten gesehen. Wir sollten Nachbarschaftshilfe organisieren und so besser für unsere Leute sorgen.«
»Wenn dies eine ausgewachsene Epidemie wird, ist planvolles Vorgehen unabdingbar«, sagte ein Mann von den Fairys aus der Schwulen-Kommune in der Stadtmitte.
»Laßt uns darüber nachdenken«, forderte Salal. »Laßt uns die ganze Sache nicht einfach verdrängen, nur weil wir diese Möglichkeit nicht ins Auge fassen wollen. Wer hat Ideen, was man tun könnte?«
»Ich denke, jeder sollte in seiner Arbeitsgruppe eine zweite Person haben, der er seine speziellen Fähigkeiten beibringt. Und wer über wichtige und besondere Informationen verfügt, sollte diese mindestens zwei anderen mitteilen. Jeder Haushalt
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