Das Fünfte Geheimnis
vorne, einer hinten. Bird wußte, es gab zwei Stellen am Rückweg, an dem der Weg eine starke Biegung machte, so daß der Wächter am Anfang der Kolonne das Ende nicht mehr überblicken konnte. Die Wachen verließen sich dabei ganz auf die elektronischen Handschellen. Sie erwarteten gar keinen Ärger.
Sie marschierten los, soweit man bei dem müden Schlurfen der geschundenen Männer überhaupt von marschieren reden konnte. Bird wußte, jetzt war der Augenblick des Handelns gekommen.
»Madre Tierra, Mutter Erde, hilf uns nun, hilf uns nun«, mechanisch wiederholte Bird sein Stoßgebet, »hilf, reiche uns eine helfende Hand. La Llorona, die um ihre Kinder weint, hilf mir jetzt, wenn du nicht wieder um mich weinen möchtest«, betete er. »Wenn du irgendwo da draußen bist, reich' mir deine Hand!« Er fühlte, wie die Ströme der Erde durch seine Füße eintraten und seinem Atem Regelmäßigkeit gaben. Und sein Geist erreichte den Zustand, an den er sich aus seinen lang vergessenen Trainingszeiten erinnerte.
Er konnte sich noch genau an die Lehrerin erinnern, obwohl ihm ihr Name nicht mehr einfiel. Er sah sie vor sich in ihrem roten Kleid, das jede Kurve ihres Körpers nachzeichnete. »Wer sein Gehirn unter Kontrolle hat, hat auch seine Gehirnströme unter Kontrolle und damit auch Einfluß auf elektronische Felder«, hatte sie gesagt. Er hatte seine Augen schließen müssen, damit ihm die Trance gelang. »Stellt es euch so vor, als ob ihr in ein Haus eintretet und durch die Flure zu den Zimmern geht. Merkt euch die Farbe oder das Muster der Eingangstür und der weiteren Türen, damit ihr den Rückweg findet.«
Farbe? Muster? Bird fielen nur die Klangfarbe und der Rhythmus von dem irischen Volkstanz ein, den er an jenem Morgen auf der Gitarre zu spielen versucht hatte. Was einem so alles durch den Kopf geht, lächelte er in sich hinein. Merkwürdig, daß ihm das einfiel, nicht aber der Name der Lehrerin. Er summte leise vor sich hin und bemerkte, daß er in den Zustand geriet, in dem er an dem elektronischen Armband die Energieströme sehen konnte.
Aufpassen! ermahnte Bird sich. Nur keinen Fehler machen, sonst würden die Wachen etwas bemerken. Doch wie sollte er die elektronischen Wächter am Handgelenk unwirksam machen, ohne Alarm auszulösen? Ruhig bleiben, tief und gleichmäßig atmen, befahl er sich. Ganz ruhig! Ganz tief erden! Er schickte seinen Geist tiefer hinab. Und wirklich: Die Energieströme an seinem Handgelenk vertieften ihre Farbe und zeigten sich in den Farben Rot, Gelb und Blau. Er konnte eine rote Linie sehen, die die marschierenden Männer miteinander verband, diese Energielinie zog sich wie ein rötlicher Faden von ganz hinten nach ganz vorn. So ist das also, dachte Bird. Blitzartig kam ihm die Erleuchtung. Wenn diese Linie durchbrochen wurde, wurde die Energiekette durchbrochen, der Alarm ertönte und die schmerzhaften elektrischen Peitschenhiebe wurden ausgeteilt. Aber was sich einschalten läßt, läßt sich auch ausschalten, dachte er.
Er schaute sich die blauen Linien genauer an. Sicher gab es eine Energiequelle, aus der alles gespeist wurde und die er ausschalten könnte. Er machte einen tiefen Atemzug und erinnerte sich an den Schmerz, den er am ersten Tag mit diesem Gerät zugefügt bekommen hatte. Und er beobachtete dabei die Energielinien. Tatsächlich leuchtete eine der Linien stärker. Er nahm das sorgfältig zur Kenntnis und folgte der Strömung zurück bis zur Energiequelle, die rhythmisch pulsierte. Er atmete tief und holte ein Stück vom Erdenfeuer von ganz tief unten zu sich herauf – und schlug zu. Ein unbeschreiblicher Schmerz schoß durch seinen Körper und durchpulste ihn bis unter die Haarwurzeln. Dann war es vorbei. Bird blickte schnell auf sein Handgelenk und dann nach vorn und hinten. Er jubelte innerlich: Die rötliche Energielinie lief weiter von vorn bis hinten, eine einzige lange Linie. Aber er selbst war nicht mehr in diese Linie eingeklinkt. Er war frei!
Bird brach der Angstschweiß aus. Doch dann fing er sich wieder, und entschlossen drehte er sich zu Littlejohn um. Er nahm dessen Hand und griff nach dem elektronischen Armband. »Es wird weh tun«, warnte er, »aber nur einen kurzen Moment.« Wieder suchte und fand Bird die Energiequelle, schneller als beim ersten Mal. Er sah wie Littlejohn sich verkrampfte, doch kein Laut kam über seine Lippen. Dann war es auch schon vorbei.
Einen Moment später hatte Bird auch Hijohn befreit. Der stöhnte kurz auf und
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