Das Fünfte Geheimnis
denn nur war.
Dafür kamen andere Erinnerungen, ausgelöst durch Düfte in der Luft oder durch ein Geräusch oder zufällige elektrische Muster in seinem Gehirn. Er erinnerte sich, wie er von einer Fastenwoche aus den Bergen zurückgekommen war, wo er meditiert hatte. Er war voll gewesen mit Melodien und Träumen. Madrone erschien ihm, nackt lag sie neben einem Swimmingpool, der sein glasklares Wasser direkt von den Gletschern erhielt. Er sah ihren Körper durch das Naß gleiten, sah sie herausklettern, das Wasser reflektierte das Himmelsblau, so daß sie zu glühen schien, Blau, Silber und Gold in ihrer eigenen neuentdeckten Kraft. Sie vereinigten sich auf dem reichen grünen Hochland-Gras, wo die wilden Frühlingsblumen erst im August blühten.
Dann war seine Vision wieder verschwunden. Schmerz durchzuckte ihn, wieder hatte er sich an einem scharfkantigen Stück Eisen geschnitten.
Irgendetwas war wichtig, aber was nur? Er fühlte sich wie im Nebel, er wollte nur schlafen. Irgendjemand schrie von hinten und er warf das große Metallstück auf den Lastwagen zu den anderen. Es landete mit einem Geräusch, das ihn urplötzlich an das Geräusch zufallender Türen erinnerte.
Tobender Schmerz schoß durch seinen Körper und machte seinen Gedanken ein Ende.
»An die Arbeit, du Schleimscheißer!« brüllte die Wache zu ihm herüber. Und als hätten die Männer mit den Schweißbrennern nur darauf gewartet, regnete es Metallstücke. Es waren Stücke einer alten Rakete, von der heute niemand mehr sagen konnte, wie sie zu bedienen war. Und ihm konnte auch niemand sagen, wie er von hier fortkommen und den Heimweg finden würde.
Wenn ich mich doch nur erinnern könnte, dachte Bird. Vom Meer her wehte der Geruch nach Tang und Freiheit.
»Reiß dich zusammen, Junge«, sagte er laut zu sich selbst. Und dann fiel ihm ein: »Der Ozean ist die Straße nach Hause. Die Straße nach Hause führt über den Ozean. Der Ozean ist die Straße nach Hause.«
Er verfiel in einen Singsang: »Die Straße nach Hause führt über den Ozean.« Der Rhythmus seiner Worte beruhigte ihn. Er hörte die Rufe und die heiseren Schreie der Männer um sich her nicht mehr. Er war zu müde, um der Bedeutung seiner Worte nachzugehen. Er glaubte ja schon nicht mehr an sein Zuhause.
✳✳✳
In der zweiten Woche wurde die Arbeit im Arbeitslager noch härter. Bird fragte sich, wer diese Knochenarbeit jemals überlebt hatte. Doch die Frage erschien ihm von Tag zu Tag unwichtiger. Er schleppte sich morgens zur Arbeit, wunderte sich, wie er die Mittagshitze ausgehalten hatte, warf Stunde um Stunde Metallstücke auf Lastwagen und schleppte sich abends wieder zurück. Den anderen erging es nicht besser. Hijohn hatte eine klaffende Wunde am Arm, die einfach nicht heilen wollte. Bird sah es, aber er konnte keine Energie aufbauen, mit der er die Wunde hätte heilen können. Littlejohn sprach in letzter Zeit kaum noch etwas, und Bird hatte das Gefühl, er sollte irgend etwas tun. Doch er kam nicht dahinter, was. Müdigkeit überflutete ihn. Vielleicht war es ja auch egal.
Er stand gerade über ein besonders großes Stück Metall gebeugt, als er über sich einen hellen, durchdringenden Schrei hörte. Bird blickte auf. Hoch über ihnen segelte ein Falke, zog Kreise, die Schwingen im Aufwind. Und abermals hörte er diesen hellen, stolzen Schrei. Birds Herz flog empor, wenn er doch nur mit dem Vogel um die Wette fliegen könnte. Über die Hügel, über den Strand, über das Meer. Umtost vom Wind der Freiheit.
Da, ein riesiges Stück Metall stürzte vom Himmel auf ihn zu. Er war völlig geistesabwesend, aber irgendwie reagierte sein Körper. Er sprang zur Seite. Dann donnerte das Metallstück dicht neben ihm auf den Boden. Er hörte noch das Pfeifen in der Luft, dann hüllte eine Staubwolke ihn ein. Todesangst durchströmte Bird und verdrängte für Sekunden die lähmende Kraft der Drogen.
Ich lebe! dachte er atemlos, beinahe wäre ich tot gewesen. Aber ich werde wirklich sterben, wenn es mir nicht gelingt, hier herauszukommen. Er wußte plötzlich, daß er die ganze Zeit unter Drogen gestanden hatte, und er nahm sich vor, nichts mehr von dem vergifteten Zeug zu essen, das die Gefangenen bekamen. Nichts mehr davon zu essen, und wenn nötig, auch nichts mehr von ihrem Wasser zu trinken. Er machte sich ein Lied zurecht und wiederholte rhythmisch: »Nichts essen, nichts trinken. Nichts essen, nichts trinken – bis die Drogen aus mir heraus sind und ich wieder klar im
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