Das Fünfte Geheimnis
verzerrte die Lippen. Aber niemand schien es bemerkt zu haben.
Jetzt näherte sich der schlurfende Trupp der Wegbiegung, die sich Bird für die Flucht ausgesucht hatte. Jetzt, jetzt war der Wächter vorn außer Sicht. Ein schneller Blick nach hinten: Auch der Wächter hinten war durch die Kurve nicht zu sehen.
»Los!«, zischte Bird. Schnell drängte er sich durch die Gefangenen, und ließ sich ins dichte Unterholz des Abhangs zwischen dem Pfad und dem ausgetrockneten Wasserlauf fallen. Sein Herz schlug wie rasend und er bekam einen Schreck, als er das Krachen hörte, mit dem die beiden anderen durch das Gebüsch trampelten und sich unweit von ihm hinwarfen. Sie hatten nicht die Fähigkeit, lautlos durchs Gebüsch zu fliehen, wie er es früher beherrscht hatte. Jetzt war auch sein Körper sperrig und plump.
Hatten die Wächter etwas bemerkt? Würden die anderen Gefangenen etwas rufen? Müde und apathisch wie sie waren. Oder schweigen, um sie zu schützen? Oder hatten sie überhaupt nicht gemerkt, was sich abgespielt hatte? Möglich, sie standen alle unter Drogen.
Vielleicht würden sie im nächsten Augenblick von Kugeln durchsiebt oder von Laserblitzen verkohlt. Möglicherweise wurde ihre Flucht erst in ein, zwei Stunden bemerkt, beim abendlichen Zähl-Appell. Jetzt waren sie in der Senke, durch Gebüsch und eine Gruppe von Eichen geschützt. Bird warf sich hin und bedeutete den anderen, es auch zu tun. Er bemühte sich, leise zu atmen und lauschte. Nichts. Nur ihr Keuchen und sein klopfendes Herz.
»Verschwinden wir«, befahl Bird, »vorwärts«. Und er führte sie langsam und vorsichtig durch den Hohlweg, den der trockene Bachlauf bildete. Die Sonne sank schnell, Dämmerung setzte ein. Es war klüger, bis zum Einbruch der Dunkelheit zu warten. Sie mußten nordwärts, wenn sie nach Hause wollten. Wenn es ein Zuhause überhaupt noch gab, wenn es nicht nur noch in seiner Einbildung existierte. Die Flüsse und Bäche hier mündeten alle in den Pazifik, sie flossen meist von Ost nach West. Um nach Norden zu kommen, mußten sie über die Hügelketten wandern, die sich links und rechts der Wasserläufe emporzogen. Dort gab es weniger Bäume und Gebüsch, dort zu marschieren war ungefährlicher in der Dunkelheit. Sie mußten zusehen, daß sie die Zeit gut nutzten, bevor ihr Verschwinden bemerkt wurde. »Los!«, befahl er erneut.
Sie überquerten das freie Feld neben dem Flußlauf so schnell sie nur konnten. Geduckt rannten sie einzeln von Baum zu Baum, von Gebüsch zu Gebüsch, von Deckung zu Deckung. Birds Körper schmerzte, er keuchte stoßweise. Am liebsten hätte er sich hingeworfen, um niemals wieder aufzustehen. Doch er wagte es nicht. Er war sich so sicher gewesen, daß niemand sie in den Hügeln einfangen würde. Doch jetzt, erschöpft wie er war, war er nicht mehr ganz so zuversichtlich. Wer wußte, ob die Stewards die Hügel nicht elektronisch überwachten? Vielleicht waren sie längst entdeckt? Vielleicht hatten sie scharfe Suchhunde? Vielleicht kamen sie in der Nacht mit einem Hubschrauber und Infrarot-Suchgerät? Vielleicht.
»Hubschrauber!«, rief Hijohn halblaut. Bird hörte es jetzt auch. Ein hartes Dröhnen aus der Luft hinter ihnen. »Runter! Versteckt euch gut im Gebüsch. Bedeckt das Armband mit eurem Körper!«
Bird warf sich ins Gebüsch und barg seinen rechten Arm unter dem Oberkörper. Er starrte in den Staub und versuchte, sich und die anderen mit Unsichtbarkeit zu umhüllen. Der Helikopter dröhnte dicht über sie hinweg. Er drehte ab und kam zurück.
Hijohn hatte sich unter einen Manzanita-Busch geworfen, keine drei Meter von Bird entfernt.
»Sie versuchen, uns zu orten«, flüsterte Hijohn mit krächzender Stimme, »ganz still, sie haben Geräte, mit denen sie sogar die Vibrationen unserer Stimmen lokalisieren können. Also leise, leise!«
»Können sie uns sehen«, fragte Bird, »irgendwie?«
»Das ist gar nicht nötig«, wisperte Hijohn, »vermutlich können sie unsere Armbänder orten. Vielleicht ist irgend etwas drin, was das möglich macht.«
»Scheiße!«, stieß Bird hervor. Er schloß die Augen und ließ sich in Trance zurückfallen. Er blickte auf sein Armband, doch nichts war zu sehen. Kein Licht, keine Farbveränderung, nichts. Aber vielleicht funktionierten sie ganz anders. Vielleicht hatten die Wachen einen Scanner, mit dem sie die Armbänder aufspüren konnten. Himmel, warum sandte der Himmel keinen Sturm, warum nicht wenigstens ein Gewitter? Doch der Himmel blieb
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