Das Fünfte Geheimnis
oder hier bei Hijohn auf mich warten?«
»Mann, ich möchte mich am liebsten überhaupt nicht mehr bewegen. Ich bleibe hier.«
Eine Meile bachaufwärts entdeckte Bird einen alten Obstgarten. Um die Bäume wucherte Unkraut, die Äste waren nicht beschnitten, überall lag Fallobst herum, der süße Duft des Verfalls lag in der Luft. Es konnte einem schwindlig werden davon. Nachmittagssonne sickerte durch das dichte Gezweig, Bienen summten und versammelten sich an den gefallenen Früchten. Ein seltsamer Zauber lag über dem verlassenen Garten. Hier, so fühlte Bird, hatten magische Rituale stattgefunden, hier war den Göttern und Geistern der Ahnen geopfert worden, dessen war er ganz sicher. Und zum ersten Male seit langem fühlte er sich an einem Ort glücklich, zufrieden und sicher.
Er setzte sich unter einen alten knorrigen Apfelbaum und lehnte sich gegen dessen schrundigen Stamm. Plötzlich spürte er etwas Feuchtes auf seinen Wangen. Überrascht erkannte er, daß er weinte. Bis jetzt hatte er nicht weinen können. Der Kampf ums Überleben war einfach zu fordernd gewesen. Er blickte auf seine steifen Hände und weinte. Nie wieder würde er so Gitarre spielen, wie früher. Er weinte um die verlorenen Jahre seines Lebens. Er weinte darüber, daß die Welt um ihn herum so abstoßend, gewaltbereit, häßlich und unmenschlich geworden war. Er weinte um alle die Lieder, die er nie mehr spielen konnte und um all das Lachen, das er in den verflossenen zehn Jahren nicht hatte lachen können. Und er weinte, weil er es nicht glauben konnte, daß er all dies überlebt hatte, daß er nun doch noch zurück nach Hause kommen würde. Nach Hause!
Hunger und Erschöpfung hatten ihn ausgehöhlt. Das Summen der Bienen klang ihm laut in den Ohren. Es schien ihm, als sei er unverhofft in den heiligen Garten der schimmernden Insel gestolpert, wo die Lebenden und die Toten miteinander spazieren gingen.
Vor seinen Augen öffnete sich die Gartenpforte und die Verstorbenen kamen herein. Cleis und Zorah und Tom erschienen. Das Gras raschelte unter ihren Füßen, dürre Äste knackten. Blütendüfte vermengten sich mit Salbei und Fäulnis. Sie kamen alle auf ihn zu, seine geliebten Toten, lächelnd und mit ausgestreckten Armen, und hinter ihnen tauchte Rio auf, Mayas Freund von früher. War er nicht sein Großvater? Bird wußte es nicht genau. Als er zu seinem großen Abenteuer aufbrach, lebte Rio noch. Bird streckte seine Hände nach ihnen aus und öffnete den Mund, um etwas zu fragen. Was war damals passiert, wollte er wissen. Warum hatten sie alle ihn verlassen? Doch da war niemand im Apfelgarten. Über ihm kreisten drei Kormorane und eine schwarze Krähe.
Er blickte zu Boden. Da lagen vier schwarze Federn. Er blickte wieder auf und sah auf dem Kamm des nächsten Hügels eine WildHerde, die ihn mit weichen Tierblicken beobachtete. Das Leittier war ein Hirsch mit vollem Geweih. Die Sonne färbte den Himmel hinter ihm rot.
Der Hirsch senkte den Kopf. Bird streckte die Linke aus und machte ein Segenszeichen in Richtung der Herde. Das Gefühl von neugewonnener Stärke und Mitgefühl durchflutete Bird. Entzücken erfaßte sein Herz und neue Hoffnung. Die Krähe schrie. Die Herde tauchte im Wald unter.
Bird aß langsam einen Apfel und sammelte Früchte, soviele er tragen konnte. Er fand einen Walnußbaum und stopfte seine Taschen voller Nüsse. Und unter großen Eichen in der Nähe lagen Unmengen von Eicheln. Sicher, sie schmeckten sehr bitter, aber das ließ sich mildern, wenn man sie im Bach einweichte. In einer Ecke des Obstgartens entdeckte er Sträucher voller Beeren, und wilder Fenchel wartete nur darauf, geerntet zu werden. Beladen mit Früchten kehrte er zu seinen Gefährten zurück.
✳✳✳
Er fand Littlejohn neben Hijohn knieend, und er ließ ihn aus seinen gewölbten Händen trinken. Die untergehende Sonne färbte den Himmel rosa und nachtblau. Die Szene erinnerte Bird an ein Heiligenbildchen, das die Schwestern zu Hause in ihrem Wohnzimmer hatten. Die seltsam-friedlichen Augenblicke im alten Obstgarten klangen noch in ihm nach. Er setzte seine Ernte neben seinen beiden Begleitern ab.
»Ich habe etwas zu essen gefunden«, sagte er glücklich. »Laßt uns essen!«
»Etwas zu essen«, flüsterte Littlejohn staunend, »Mann, du bist wirklich ein Hexenmeister!«
Sie aßen die Äpfel mit Behagen und öffneten die harten Schalen der Walnüsse mit zwei Steinen. Die Äpfel waren noch nicht ganz reif, aber genießbar, einige der
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