Das Fünfte Geheimnis
Beeren schmeckten zwar ausgesprochen sauer, aber Bird fand alles köstlich. Ihm war, als hätte er nie zuvor so gut gegessen. Es schmeckte nach richtiger Erde, nach richtiger Sonne, nach Wind und Freiheit. Alles was er in den vergangenen Jahren hatte essen müssen, hatte irgendwie vergiftet oder präpariert geschmeckt.
Nachdem der erste Hunger gestillt war, knackten sie Walnüsse und immer mehr Walnüsse. Bird beobachtete gedankenvoll Hijohn. Eine Nacht voller Ruhe würde ihm gut tun. Hijohn hatte sich von den brutalen Prügeln der Stewards noch immer nicht erholt. Das Gefangenenlager und nun die Flucht hatten ihm weiter zugesetzt. Bird sah, wie Hijohn immer wieder den Mund schmerzhaft zusammenkniff. Doch er sagte nichts, klagte nicht. Dabei war es offensichtlich, daß ihm jede Bewegung weh tat.
Bird sagte: »Ich denke, wir sind heute Nacht hier sicher. Ich glaube, wir sollten hier bleiben. Was meint ihr?«
Hijohn lächelte: »Wenn du von mir erwartest, daß ich jetzt sage, wir gehen weiter, ich kann es nicht. Selbst wenn ich wollte nicht!«
»Laß mich nur ein bißchen ausruhen, dann werde ich dich massieren«, sagte Bird. »Und du, Littlejohn, was denkst du?«
»Weiter? Wohin denn?«
»Sorry«, meinte Bird, »ich weiß auch nicht genau wohin. Einfach weiter, Richtung Heimat. Habe ich euch doch schon erklärt.«
»Und wo ist deine Heimat?« fragte Hijohn.
»Im Norden. In San Francisco. Und sagt um Himmels Willen nicht Saint Francis oder Frankies Platz oder sonst einen blöden Namen. Die Stadt heißt San Francisco, obwohl viele dort jetzt auch Hierba Buena sagen, seit den Aufständen.«
Hijohn sah ihn gedankenvoll an: »Und was für eine City ist das?«
»Nun, eben eine City«, gab Bird zurück, »und das Land drum herum ist die Wasserscheide. Das Gebiet der High Sierra im Osten. Der Küstenstrich nach Norden hin. Es ist schön dort. Es ist das Land der Rotzedern.«
»Ich habe früher davon gehört«, sagte Hijohn, »was sind das für Bäume?«
»Nun, sie sind wie... ja wie Wächter. Wenn du unter ihnen stehst, fühlst du dich geborgen. Beschützt. Sie halten mit ihren Zweigen den Nebel fest. Die Leute sagen freilich, es sei kein Nebel, sondern die Seelen der Verstorbenen, die du geliebt hast.”
Bird wurde in der Erinnerung an die Rotzedern-Wälder von Mount Tamalpais lebhaft. Er roch förmlich ihren Duft, sah ihre rauhe rissige Rinde vor seinem inneren Auge und die duftenden Lorbeerbäume darunter. Eine lange vergessene Melodie fiel ihm wieder ein. Er sang sie.
»Das ist der Rotzedern-Song«, sagte er, »er nimmt das Rauschen der großen, alten Bäume auf.«
Das Lied klang in seinem Inneren nach und unwillkürlich wollte er nach seiner Gitarre greifen. Doch seine Hände schmerzten von alten Wunden, und es gab ihm einen Stich, als er es bemerkte. Aber die Musik ist immer noch in mir, beruhigte er sich. Ich bin immer noch voller Musik, und irgendwie werde ich wieder zu ihr finden.
Es war nun ganz dunkel und die nachtblaue Luft trug schon die Kälte der Nacht herbei. Bird überlegte, ob sie Feuer machen sollten. Doch wie? Sie hatten keine Streichhölzer, sie würden wie die Steinzeitmenschen zwei trockene Hölzer gegeneinander reiben müssen. Eine mühselige Sache, aber er würde es sicherlich schaffen. Er hatte es damals als Jugendlicher gelernt, als er sein Feuer-Jahr absolvierte. Ja, das war typisch für die Schule von Johanna gewesen. Sie war dafür, daß Kinder eine Sache von Anfang bis zum Ende kennenlernten. So übten die Kinder in San Francisco das Feuermachen mit zwei trockenen Hölzchen ebenso wie sie lernten, ein Feuer kunstgerecht wieder zu löschen und dann lernten sie, wie Dampfmaschinen zu bauen waren oder Solar-Heizungen. Ja, eine gute Art und Weise, die Dingen wirklich zu begreifen, dachte Bird. Es war jedenfalls nie langweilig gewesen in Johannas Schule, und alle hatten etwas Vernünftiges, etwas Brauchbares gelernt. Danke Johanna, dachte er, ich wollte du wärest noch am Leben, damit ich dir das selbst sagen könnte. Aber Johanna war tot, gestorben im selben Jahr wie seine Mutter, an derselben Epidemie. Was würdest du mir jetzt raten, Johanna? Wie macht man hier am besten Feuer?
»Versuche dein Glück nicht zu sehr«, hörte Bird Johannas Stimme.
Das war sicher Johannas Geist, aber vermutlich bildete er sich das nur ein, so wie in dem alten Obstgarten. Aber Geist oder nicht, Bird überkamen Bedenken. War es unklug, Feuer zu machen? Sie waren im Moment hier sicher. Aber waren sie
Weitere Kostenlose Bücher