Das Fünfte Geheimnis
Atomreaktor.
Jemand war auf ihn zugekommen. Ein Mann, sommersprossig mit sandblondem Haar. Er rief etwas. Birds Hand machte eine plötzliche Bewegung und die Kugel traf den Mann zwischen die Augen. Der Körper brach vor Birds Füßen zusammen, die Seele des Sterbenden floh davon in Schock und Empörung. Das Summen des Reaktors verebbte wie ein heulender Hund. Ja, er erinnerte sich, wie er gefühlt hatte, daß der Mann starb. Ja, er erinnerte sich, daß er auf sein Gesicht hinuntergesehen hatte, wie er damals nach dem Aufstand in das Gesicht seines Vaters gesehen hatte. Möglich, daß alle Toten gleich aussahen.
»Wie lange habt ihr hier gelebt?« fragte Littlejohn und beobachtete neugierig Birds einwärts gerichteten Blick.
»Seit der große Hunger kam«, antwortete Dana, »die meisten von uns waren damals noch Kinder. Wir lebten mit unseren Eltern in Slotown oder im staatlichen Internat. Als das Essen knapp wurde, haben sie uns rausgeschmissen.«
Als der letzte Schalter umgelegt war und das Brummen des Reaktors verstummt war, hatten sie all ihre Munition auf die Kontroll-Armaturen verschossen. Danach waren sie hilflos, als die Türen explodierten und die Wachen hereinbrachen und auf sie schossen. Zorah hatte geschrien, Cleis jammerte und fiel, während Tom aufschrie und dann wurden sie zu Vögeln, die im Aufwind davonsegeln. Etwas hatte Bird in den Schenkel getroffen. Er erinnerte sich, wie die Schmerzen ihn überfluteten. Und dann kam das Nichts.
»Bist du okay?« fragte Littlejohn und packte Bird beim Arm. Bird nickte und versuchte, sich auf Morton zu konzentrieren, der seine Geschichte weitererzählte.
»Da lebte eine Frau in Avila Beach. Wir nennen es jetzt Avalon Beach,« sagte Morton. »Die nahm uns auf. Brachte uns ein paar Dinge bei über das Anbauen von Nahrung und Kräutern. Sie hatte bestimmte Kräuter, von denen sie behauptete, sie heilten Krebs, darum hatte sie keine Angst vor dem Land. Sie war eine gute Frau.«
»Die Millennialisten brachten sie '35 weg«, sagte Dana.
»Göttin gib ihr Frieden«, murmelten die anderen im Kreis. Sie traten jetzt nacheinander näher und stellten sich vor: Gardner, ein schmächtiger zwergenhafter Mann, Anna, eine Frau, der der linke Arm fehlte, und Holly und Heather, Zwillingsschwestern mit buckligem Rücken.
In Birds Kopf verwirrten sich Namen und Erinnerungen. Erde dich, befahl er sich selbst, bleib in der Gegenwart. Hier und Jetzt. Ein geheimer Stolz keimte in ihm auf. Dies waren seine Leute, auch wenn sie es nicht wußten. Er hatte ihnen ihr Leben gegeben. Er hatte eine Tat begangen, die die Welt verändert hatte.
»Seid ihr hier?« rief er leise nach Cleis, Zorah und Tom. »Wißt ihr, daß ihr mit euren Leben doch etwas erkauft habt? Warum kann ich euch nicht fühlen?« Die Luft war kalt geworden und der Himmel hatte sich verdunkelt, er fröstelte.
»Dies ist unser Ritual-Kreis«, sagte Rhea. »Wir wollten gerade das Vollmond-Ritual beginnen, als wir über euch beide stolperten. Wollt ihr mit uns feiern? Es kommt nicht oft vor, daß Hexer aus anderen Gegenden dabei sind.«
»Es wäre für uns eine große Ehre«, sagte Bird.
Die Monster begannen eifrig, Holz für ein Feuer in der Grube aufzuschichten, die auf der Mitte der Lichtung lag. Hinter den Bäumen ging die Sonne rotglühend unter. Die Luft wurde kalt, während der Himmel sich von Blau nach Indigo verfärbte. Irgend jemand warf Bird eine Wolldecke über die Schultern und er ergriff sie dankbar. Langsam hob sich der Vollmond und tauchte das Gras in silbernen Schein.
Sie versammelten sich ums Feuer. Bird fühlte die Wärme in seinen Händen und sog sie in seinen Körper ein. Er hatte nun schon so lange nichts mehr gegessen, daß er fast schon jenseits des Hungers war. Mit leichtem Kopf, ohne noch die Formen der Dinge wahrzunehmen, nur noch ihre Energien. Sein Bein schmerzte. Ja, er hatte damals einen Schuß abbekommen. Die Wunde war nie richtig verheilt, und das war einer der Gründe, warum das Bein so oft schmerzte. Das Feuer wärmte gut, aber er wußte nicht, wie lange er sich noch würde aufrecht halten können.
Die Monster errichteten einen Altar auf einem flachen Stein im Norden der Senke. Dana zündete eine Kerze in einem Glaskrug an, und die anderen holten Eßwaren aus ihren Körben und stellten sie rund um den Altar, Brotlaibe, Käse, Schüsseln mit Äpfeln und Trauben und Töpfe voller Nahrungsmittel.
Bird schluckte. Seine Kehle war trocken, und der Hunger überwältigte ihn nun. Auch
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