Das Fünfte Geheimnis
knieende Position hochzustemmen. Als er den Kopf hob, blickte er in die Mündung eines alten Gewehrs.
Einen Moment lang schien alles, was er sah, eine scharfe Kontur zu haben. Ein Blatt, ein Ast, ein Erdfleck waren in seine Netzhaut eingegraben, letzte Eindrücke, die er mit hinübernehmen würde in die Welt des Geistes. Er wußte, er konnte nicht rennen; er hätte alle Muskeln seines Rückens und der Hüften bewegen müssen und sein Nacken schmerzte so sehr, er konnte nur fortfahren, ganz langsam den Kopf zu heben. Wenn er nicht rennen konnte, mußte er sterben, so einfach war das. Er würde nie wieder ins Gefängnis zurückgehen.
Doch als seine Augen den Gewehrlauf aufwärts wanderten, wurde ihm klar, daß sein Gegenüber kein Wachposten war. Die Hände am Gewehr waren braun, zerschunden und schmutzig, mit angerissenen Nägeln, aber unverkennbar weiblich. Die Arme gehörten zu einem Körper, der unter einem zerrissenen Baumwollhemd Brüste hatte. Und das Gesicht – doch als er in das Gesicht blickte, erstarrte er wieder. Ein Gesicht wie dieses hatte er niemals gesehen. Zunächst schien es wie ein klaffendes Loch zu sein, dann erkannte er eine Unterlippe und eine Oberlippe, die in zwei Hälften geteilt war, und dort, wo eine Nase sein sollte, war eine tiefe Scharte. Ein wildes Gestrüpp von Haaren umrahmten das Gesicht.
Und die Augen... Die Augen nahmen ihn sofort gefangen. Sie waren braun, weit auseinander stehend unter wohlgeformten Brauen, und während er in diese Augen sah, versank er förmlich in ihnen. Seit Jahren hatte er nicht in solche Augen gesehen. Diese Augen durchdrangen ihn bis in den letzten Winkel seiner Seele und lasen ganz exakt, was er dachte und fühlte. Kein Wimpernschlag veränderte ihren Ausdruck. Er fragte sich, wie es wohl war, hinter diesem Gesicht mit den wissenden Augen zu leben. Sie würden sich nie irren beim Aufspüren von Ablehnung oder Zurückweisung. Aber er las auch Mitgefühl in diesen Augen.
»Wer ist unsere Mutter?« fragte eine männliche Stimme hinter ihm.
Er mühte sich auf die Füße und drehte sich um. Da war niemand. Höre ich Stimmen, fragte er sich, doch dann sah er hinunter auf eine Pistole, die auf ihn gerichtet war. Der Mann, der sie hielt, ging ihm nur bis zur Hüfte. Er war muskulös und gutaussehend mit runden blauen Augen und einem dicken Wuschelbart, der den größten Teil des holzbraunen Gesichts bedeckte. Doch wo seine Beine sein sollten, sah Bird nichts, als wäre sein Körper aus dem Boden geschossen.
»Wer ist unsere Mutter?« wiederholte der Mann.
Vielleicht waren das Spätfolgen der Drogen, mit denen sie ihn vollgestopft hatten. Littlejohn begann zu erwachen. Bird erinnerte sich plötzlich an seine erste Begegnung mit Hijohn.
»Die Erde ist unsere Mutter«, sagte Bird.
»Wir müssen sie schützen«, erreichte ihn eine unsichtbare Stimme von links.
Littlejohn drehte sich halb um. Sie waren umringt von bewaffneten Figuren, einige hatten seltsam entstellte Gesichter, anderen fehlten Gliedmaßen oder es baumelten schlaffe Schenkel. Sieben waren es, zählte Bird.
»Wer seid ihr?« Es war die seltsame Frau, die ihn fragte. Ihre Stimme klang heiser und irgendwie entstellt, aber es schwang ein Unterton von Autorität mit. Bird drehte sich wieder zu ihr um. Sie las in ihm, wie in einem offenen Buch, wie es jede richtige Hexe getan hätte.
»Ich heiße Bird«, sagte er. »Bird Lavender Black Dragon.« Sein eigener Name hatte einen süßen Geschmack und zugleich war er ihm fremd. Es war so lange her, daß er ihn laut ausgesprochen hatte. Er fühlte etwas, das von Littlejohn herkam, einen Funken Verletztheit. Und ihm war plötzlich klar, daß er ihm nie seinen richtigen Namen gesagt hatte. Doch nun konnte man's nicht mehr ändern. »Und dies ist Littlejohn.«
»Woher?«
»Wir sind geflohen. Aus dem Süden. Aus einem Arbeitslager. Aber ich stamme aus dem Norden – aus der City.«
Aufgeregtes Gemurmel.
Die Frau sagte etwas, das Bird nicht richtig verstehen konnte. Der beinlose Mann wiederholte es deutlicher.
»Ihr seid also Hexenmeister.«
»Richtig.«
»Aus dem Norden?«
»Er«, sagte Littlejohn.
»Seid ihr verfolgt worden?«
»Nein”, sagte Bird.
»Verdammt«, fügte Littlejohn hinzu, »wenn man uns verfolgt hätte, wären wir sicher schon tot und nicht hier. Meint ihr nicht, ihr solltet die Knarren runternehmen?«
»Wir sind wirklich ziemlich harmlos«, sagte Bird.
Die Augen der Frau fixierten ihn, suchend. Sie erinnerte ihn an Maya; er
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