Das Fünfte Geheimnis
neue Name von San Luis Obispo?«
»Richtig, wie Los Angeles«, Bird sprach die Worte mit spanischer Betonung aus, »in Angel City umgetauft wurde.« Er berichtete weiter. Erzählte von dem langen Trip die Küste hinauf nach Norden. Was er nicht erwähnte, waren die Qualen dieses Marsches, wie sein Körper bei jedem Schritt protestierte, wie seine Füße bluteten, wie seine Kehle immer mehr austrocknete. Es hätte nicht viel gefehlt, Bird wäre einfach liegen geblieben – und vielleicht gestorben. Doch alle hörten das Nichtgesagte aus dem Klang seiner Stimme heraus, wußten, warum er bestimmte Worte verwendete und andere nicht. Madrone schlang zitternd ihre Hände um ihre Knie, ja sie wußte Bescheid.
»Und?« fragte Maya, als Bird geendet hatte.
»Und was?«
»Und was hast du uns alles noch verschwiegen?«
Bird schluckte. Sie hatte recht, aber er konnte daran nicht einmal denken und schon gar nicht darüber sprechen.
»Gut«, sagte er und schluckte noch einmal, »ich habe euch erzählt, woran ich mich erinnere. Aber ich weiß nicht einmal, ob ich mich richtig erinnere. Vielleicht war das gar nicht ich, dem dies alles zugestoßen ist. Vielleicht war alles ganz anders?«
»Niemand würde dir einen Vorwurf dafür machen«, sagte Maya freundlich.
»Ich weiß«, sagte Bird, »ich mache mir aber selbst Vorwürfe. Ich fühle mich verantwortlich. Habe ich ihnen erzählt, daß unsere City eigentlich überhaupt keine Waffen hat? Daß wir uns kaum verteidigen können? Wollen sie deshalb bei uns einmarschieren?«
»Was immer du ihnen erzählt hast, hast du ihnen wahrscheinlich vor zehn Jahren erzählt«, gab Holybear zu bedenken. »Dann wären sie doch schon vor zehn Jahren gekommen?«
»Schätze, du hast recht. Ich habe kein richtiges Zeitgefühl mehr. In meinem Kopf ist alles völlig durcheinander.«
»Du hast alles gut gemacht«, meinte Sage, »so gut du eben konntest, so gut wie es jeder andere unter diesen Umständen gekonnt hätte.«
»Das weiß ich eben nicht. Ich erinnere mich nicht mehr.«
Nun endlich war es heraus, er fühlte sich erleichtert. Die anderen lobten ihn immer wieder. Und dann kehrte die Angst zurück. Wovor fürchtete er sich noch? Vor Strafe, Verdammung? Das würde nach diesem Gespräch doch keinen Sinn mehr machen. Madrone spürte, daß etwas in Bird vorging. Sie streichelte seine Hand, fühlte die harten Narben. Niemand sprach mehr, es gab nichts mehr zu sagen. Langsam wich die Spannung von Bird.
»Und was willst du nun tun?« fragte schließlich Manzanita.
»Zurückgehen!«
»Wieso und wie denn?«
»Zu Fuß, wie ich gekommen bin, schätze ich«, sagte Bird ironisch.
Alle schwiegen verblüfft. Fünf Augenpaare musterten ihn scharf, sahen, wie sein Körper sich straffte, wie ihn neue Energien durchströmten. Schmerz durchzog Birds Gesicht, und seine Adern schwollen an.
»Ich kann doch gehen«, sagte Bird grollend, »ich bin doch auch bis hierher gelaufen, oder etwa nicht?«
Maya blickte unbeteiligt auf die Stickerei an ihrer Bluse. Madrone schloß ihre Augen. Sie sah sich selbst über die glühend heißen Küstenwege wandern, durch Canyons, einsam, allein, hungernd, frierend. Am Gürtel ein Bowie-Messer. Sie blinzelte, um dieses Bild zu verscheuchen.
»Die Menschen da unten brauchen einen Heiler«, sagte sie, »du bist keiner.«
»Ich gehe trotzdem, ich will denen da unten helfen.«
»Irgendjemand sollte bestimmt hingehen. Sam wird die Sache beim Heiler-Council vortragen. Jemand wird dann gehen. Aber nicht du, Bird, du hast genug durchgemacht.«
»Was heißt schon genug? Wer kann schon sicher sein, das Richtige zu tun? Ich will verhindern, daß wir Krieg bekommen«, sagte Bird beharrlich.
»Laß das Heiler-Council entscheiden, wer geht«, bat Madrone.
»Warum sollte ich das?« beharrte Bird.
»Aber sie hat recht, Bird«, legte sich Holybear ins Mittel, »du bist gerade erst zurück. Du weißt doch, wir machen immer alles zusammen, entscheiden auch immer gemeinsam. Dies ist nicht nur deine alleinige Sache.«
Bird schwieg. Madrone rückte etwas vor und blickte auf Nita, die ihr in die Augen sah. Nita hatte erraten, woran sie dachte.
»Hör mal auf mit deinen verrückten Visionen, Madrone«, sagte Nita unfreundlich, »du bist nicht einmal fit genug, um selber Reis zu kochen. Aber bis in die Southlands kannst du problemlos laufen? Was zum Teufel ist los mit dir, Mädchen?«
»Du hast während der Epidemie zu hart gearbeitet«, sagte Sage.
Maya schnaubte verächtlich:
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