Das fuenfte Imperium
die relativ sind. Doch die Leiden, die sie hervorrufen, sind echt. Im Erleben von Schmach und Armseligkeit geht ein Menschenleben dahin.«
»Und wozu ist die Ursünde gut?«
»Um das Denken des Menschen in einen Rahmen zu pressen. Seinen wahren Platz in der Symphonie von Mensch und Vampir vor ihm zu verhüllen.«
Ich konnte mir denken, dass das Wort Symphonie hier etwas wie Symbiose meinte. Trotzdem trat mir ein großes Orchester vor Augen mit Jehova am Dirigentenpult, in schwarzem Frack und mit blutverschmiertem Mund ...
»Dass Glamour eine Maskerade ist, sehe ich noch ein«, teilte ich meine Überlegungen mit. »Aber wieso lässt sich dasselbe vom Diskurs behaupten?«
Jehova schloss die Augen und sah nun aus wie Jedi-Meister Yoda.
»Im Mittelalter hat keiner etwas von Amerika geahnt«, sagte er. »Es musste nicht getarnt werden, weil keiner auf die Idee kam, danach zu suchen. Das ist die allerbeste Tarnung. Wenn wir irgendein Objekt vor den Menschen verstecken wollen, müssen wir nur dafür sorgen, dass keiner daran denkt. Zu diesem Zweck müssen wir das menschliche Denken beaufsichtigen, den Diskurs kontrollieren. Die Diskurshoheit besitzt, wer die Grenzen vorgibt. Sind die Grenzen erst einmal gezogen, kann man dahinter eine ganze Welt verbergen. In der befindest du dich jetzt. Gib zu, dass die Welt der Vampire nicht übel maskiert ist.«
Ich nickte.
»Außerdem«, fuhr Jehova fort, »betreibt der Diskurs auch Tarnung durch Magie. Ein Beispiel. Kein Mensch wird bestreiten, dass viel böses Unheil in der Welt ist, oder?«
»Wohl kaum.«
»Aber wo genau das Böse seine Quelle hat, darüber streiten die Zeitungen tagtäglich! Das ist eines der großen Phänomene dieser Welt, denn eigentlich müsste der Mensch in der Lage sein, das Böse seiner Natur nach zu erfassen, er hat einen Instinkt dafür, der keine Erläuterungen braucht. Dass ihm das Böse trotzdem unbegreiflich vorkommt, ist ein faustdicker magischer Akt.«
»Stimmt«, sagte ich düster. »Da ist was dran.«
»Der Diskurs ist wie ein Stacheldraht, der unter Strom steht. Nicht der Körper kriegt bei Berührung den Schlag, sondern der Geist. Der Diskurs trennt das Territorium, das man nicht betreten darf, von dem, das man nicht verlassen darf.«
»Und was ist das für ein Territorium, das man nicht verlassen darf?«
»Na, was schon. Der Glamour! Schlag ein beliebiges Hochglanzmagazin auf und schau hin. In der Mitte Glamour, und an den Rändern Diskurs. Oder umgekehrt. Der Glamour ist entweder von Diskurs umgeben oder von gar nichts, und für den Menschen gibt es kein Entrinnen: Wo nichts ist, kann er sich nur langweilen, und im Diskurs bleibt er stecken. Muss er eben den Glamour breittreten.«
»Und was bringt das?«
»Der Glamour hat noch eine weitere Funktion, über die wir noch nicht gesprochen haben«, erwiderte Jehova. »Für Vampire ist es die allerwichtigste. Aber darüber zu reden wäre noch zu früh. Davon erfährst du nach dem Großen Sündenfall.«
»Aha. Und wann passiert der?«
Schweigen war die Antwort.
So verwandelte ich mich Schritt für Schritt, Schluck für Schluck in einen kulturell avancierten Metrosexuellen - bereit, in das Herz der Finsternis abzutauchen.
DAS ARCHIV
Aus dem bis hierhin Gesagten könnte der Eindruck entstehen, meine Vampirwerdung wäre ganz ohne innere Kämpfe abgegangen. Das stimmt nicht.
Die ersten Tage fühlte ich mich wie nach einer schweren Gehirnoperation. Nachts in meinen Träumen versank ich im schwarzen Sumpf, umgeben von einem Ring aus schweren Felsblöcken, oder ich verglühte in eines Backsteinmonsters Rachen, der zum Hochofen ausgebaut war. Aber härter noch als jeder Albtraum war der Moment des Erwachens, wenn ich das neue Zentrum meiner Persönlichkeit spürte, einen stählernen Kern, der nichts mit mir gemein hatte und doch mein Innerstes darstellte - so jedenfalls empfand ich diese Zunge, die in mir zu Bewusstsein gekommen und mit meinem Geist eine Symbiose eingegangen war.
Später, als die beiden Eckzähne nachgewachsen waren (sie sahen genauso aus wie die alten, nur heller), hörten die Albträume auf. Oder besser gesagt, ich nahm sie nicht mehr als Albträume wahr, fand mich mit ihnen ab: ein ähnlich notgedrungener Sinneswandel wie einstmals als Schulanfänger. Meine Seele berappelte sich, wie eine Stadt unter fremder Besatzung zu neuem Leben erwacht oder die Finger einer eingeschlafenen Hand. Doch hatte ich das Gefühl, rund um die Uhr von einer unsichtbaren Fernsehkamera
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