Das fuenfte Imperium
beobachtet zu werden. Installiert war sie in meinem Inneren: Ein Teil von mir beobachtete den anderen.
Ich fuhr nach Hause, um meine Sachen zu holen. Das Zimmer, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte, kam mir eng und düster vor. Die Sphinx im Flur erschien nur noch wie eine kitschige Karikatur. Mutter geriet bei meinem Anblick irgendwie außer sich, zuckte nur die Schultern und floh in ihr Zimmer. Nichts an diesem Ort, wo ich so viele Jahre gelebt hatte, berührte mich, alles hier war mir absolut fremd. Ich packte rasch zusammen, was ich brauchte, schob mein Notebook in die Tasche und fuhr zurück.
Nach dem Unterricht mit Baldur und Jehova hatte ich Zeit und nutzte sie, um meine neue Behausung zu erkunden. Die Flüssigbibliothek in Brahmas Kabinett hatte von Anfang an meine Neugier geweckt. Ich vermutete, dass es zu ihr einen Katalog geben musste. Bald schon hatte ich ihn in einem Fach des Sekretärs gefunden: ein großes, in seltsames Leder gebundenes Buch; Schlangenleder vielleicht. Es war von Hand geführt; zu jedem Schubkasten ein paar Seiten mit den nötigen Angaben und kurzen Kommentaren zu den jeweiligen Proben.
Das Archiv war in Rubriken eingeteilt, die an die Abteilungen einer Videothek denken ließen. Die größte war die erotische Abteilung, untergliedert nach Ländern, Epochen und Genres. Eindrucksvoll die Namen der handelnden Personen: im französischen Teil zum Beispiel von Gilles de Retz über die Marquise de Montespan und Heinrich IV. von Bourbon bis Jean Marais. (Wie es hatte gelingen können, die rote Flüssigkeit all dieser Leute zu archivieren, war mir ein Rätsel.)
Unter der Rubrik Militärs war Napoleon ebenso verzeichnet wie ein später Shogun der Tokugawa-Periode, Marschall Shukow und diverse World-War-II-Celebrities, darunter die Flieger-Asse Pokryschkin, Adolf Galland und Hans-Ulrich Rudel. Ein Teil dieses Personals tauchte auch in der Erotik-Abteilung auf, doch was da zu lesen stand, klang mir eher nach zufälligen Namensvettern, wenn nicht einem Geheim-
schlüssel: Achtung Pokryschkin. Russian Gay Community. 40er Jahre XX. Jh.
Beide Abteilungen, die militärische und die erotische, interessierten mich brennend - doch wie zumeist im Leben folgte die Enttäuschung auf dem Fuße. Die Abteilungen waren ausgelagert, die entsprechenden Kästen leer. Überhaupt nur drei Rubriken waren tatsächlich mit Präparaten bestückt: Bedeut. Maskenmacher , Pränatales Erleben und Literatur.
Die Hersteller der Masken, die der selige Brahma zusammengetragen hatte (die Sammlung hing an den Wänden ), interessierten mich herzlich wenig. Ebenso die Abteilung Literatur - dort rangierten etliche Namen aus dem Schullehrplan, die mir schon damals Brechreiz verursacht hatten. Um so neugieriger war ich auf das pränatale Erleben.
Wenn ich recht verstand, ging es um Erfahrungen, die der menschliche Fötus in der Gebärmutter sammelte. Worauf das hinauslief, konnte ich mir nicht vorstellen. Vielleicht irgendwelche Lichtblitze, gedämpfte Umweltgeräusche, Kollern aus dem mütterlichen Darm, Druck von außen, kurz: etwas Unbeschreibliches, Schweben in Schwerelosigkeit, gekreuzt mit Achterbahn.
Ich überwand mich, sog ein paar Tropfen aus dem Reagenzglas mit der Aufschrift Italy-( in die Pipette, träufelte sie mir in den Mund und nahm auf dem Sofa Platz.
Was nun über mich kam, war so unlogisch und zusammenhanglos, als wäre es schon wieder geträumt. Mir war, als wäre ich eben aus Italien zurückgekehrt, wo ich mit einer bestimmten Auftragsarbeit nicht fertig geworden war, irgendeine Steinmetzkunst. Ich war traurig, auch weil ich vieles, was mir lieb und teuer gewesen, hatte zurücklassen müssen, ich sah es schattenhaft vor mir: Lauben in den Weinbergen, kleine Kutschen (Kinderspielzeug, das besonders deutlich in Erinnerung war), Seilschaukeln im Garten ...
Doch schon war ich an einem anderen Ort, der aussah wie ein Moskauer Bahnhof, anscheinend war ich gerade aus dem Zug gestiegen, lief nun durch eine unscheinbare Tür und befand mich in einem speziellen Gebäude, das ein wissenschaftliches Institut hätte sein können. Es wurde gerade neu eingerichtet, Mobiliar gerückt, das alte Parkett entfernt. Ich meinte wieder nach draußen zu müssen und lief einen langen Flur entlang. Er führte wendelförmig erst in die eine Richtung und dann, hinter einem kreisrunden Raum, in die andere ...
Nach längerem Herumirren auf diesem Flur bemerkte ich ein Fenster, schaute hinaus und musste feststellen, dass ich
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