Das fünfte Kind. Roman
Die Schwestern, der Doktor, ihre Mutter und ihr Mann beobachteten sie dabei; alle hatten das Lächeln aufgesetzt, das diesem Moment gebührte. Aber die Atmosphäre hatte nichts von Festlichkeit, Stolz oder gar Champagnerlaune, im Gegenteil, man lächelte gezwungen und furchtsam. Harriet verspürte einen starken Saugreflex an ihrer Brustwarze, um die sich die zahnlosen Kiefer so hart schlossen, dass sie zusammenzuckte. Das Kind sah zu ihr auf und schnappte noch fester zu.
»Au!«, machte Harriet, versuchte zu lachen und nahm ihn von der Brust.
»Versuchen Sie es noch einmal«, sagte die Schwester. Er schrie nicht. Harriet hielt ihn von sich weg und forderte die Schwester mit einem unmissverständlichen Blick auf, ihn zu nehmen. Sie tat es, mit missbilligend zusammengepressten Lippen, und er ließ sich widerstandslos in sein Bettchen legen. Seit seiner Geburt hatte er noch keinen Laut von sich gegeben, außer einem ersten Protestgebrüll, das vielleicht auch ein Ausdruck des Erstaunens gewesen sein mochte.
In den nächsten Tagen durften die vier Größeren ihr neues Brüderchen im Krankenhaus besuchen. Die beiden Wöchnerinnen, mit denen Harriet das Zimmer teilte, hatten schon aufstehen können und hielten sich mit ihren Säuglingen im Tagesraum auf. Harriet hatte sich geweigert, das Bett zu verlassen. Sie sagte den Ärzten und Schwestern, sie brauche ihre Zeit, um innerlich zu heilen. Sie sagte es in fast rebellischem Ton, achtlos, ohne sich um ihre kritischen Blicke zu kümmern.
David stand, den kleinen Paul auf dem Arm, am Fußende des Betts, und alles in Harriet verlangte nach diesem Kleinen, ihrem Vierten, von dem sie viel zu früh getrennt worden war. Sie liebte seinen bloßen Anblick, das drollige weiche Gesichtchen mit den sanften blauen Augen, glockenblumenblau, dachte sie, und seine weichen kleinen Gliedmaßen. Am liebsten hätte sie seine Beinchen gestreichelt und dann seine Füßchen in ihren Händen geborgen. Ein echtes Baby, ein echtes kleines Kind …
Die drei größeren Kinder starrten den Neuankömmling, der ihnen allen so wenig glich, ratlos an. Als wäre er aus fremdem Stoff gemacht, wie es Harriet schien. Das lag zum Teil daran, dass sein Anblick sie ständig an sein abartiges Verhalten im Mutterleib erinnerte, zum Teil an seiner schweren, fahlen, plumpen Erscheinung selbst. Und dann dieser merkwürdige Kopf mit der fliehenden Stirn und den Augenbrauenwülsten.
»Wir werden ihn Ben nennen«, erklärte Harriet.
»Meinst du?«, fragte David.
»Ja, es passt zu ihm.«
Luke schüttelte von der einen, Helen von der anderen Seite Bens Patschhände, und beide sagten: »Hallo, Ben! Guten Tag, Ben!« Aber das Baby sah sie nicht an.
Als Jane, die Vierjährige, spielerisch einen seiner Füße in die Hand nahm, trat er heftig nach ihr.
»Ich möchte mal die Mutter sehen«, dachte Harriet, »die so ein Geschöpf in ihr Herz schließen könnte, so einen, so einen Fremdling.«
Sie blieb eine Woche im Bett, so lange, bis sie sich für den Kampf, der vor ihr lag, einigermaßen gewappnet fühlte, und kam dann mit dem Neugeborenen nach Hause.
Spätabends, wieder im ehelichen Schlafzimmer, saß sie im Bett an aufgetürmte Kissen gelehnt und stillte das Baby. David sah zu.
Ben saugte so kräftig, dass die erste Brust in knapp einer Minute leer war. Immer wenn eine Brust schlaff wurde, fing er an, die Kiefer um die Warze zu klemmen, sodass Harriet ihn beizeiten wegnehmen musste. Für Beobachter sah es so aus, als ob sie ihn böswillig der Nahrungsquelle beraubte, und Harriet hörte Davids beschleunigten Atem. Ben brüllte vor Wut, heftete sich dann wie ein Blutegel an die andere Brustwarze und saugte dermaßen, dass Harriet das Gefühl hatte, gleich würde ihre ganze Brust in seinem Hals verschwinden. Sie ließ ihn trinken, bis er wieder so hart zubiss, dass sie unwillkürlich aufschrie und ihn wegzog.
»Ein außergewöhnliches Kind«, sagte David einlenkend.
»Das kann man wohl sagen. Absolut ungewöhnlich.«
»Aber im Grunde ist er doch …«
»… ein prächtiges, normales, gesundes Baby«, vollendete Harriet bitter, den Klinikbefund zitierend.
David verstummte. Mit diesem unterdrückten Zorn, dieser Bitterkeit wusste er nicht umzugehen.
Sie hob Ben mit beiden Armen in die Luft. Er strampelte, wehrte sich und schrie auf die ihm eigene Art und Weise, einem Mittelding zwischen Röhren und Bellen. Dabei wurde er vor Wut gelblich bleich, nicht puterrot wie andere Kinder.
Während sie auf sein
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