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Das fünfte Kind. Roman

Das fünfte Kind. Roman

Titel: Das fünfte Kind. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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gastlichen Küche war es warm, und es roch nach der dampfenden Suppe. Draußen stürmte ein unruhiger Abend. Es war Mai. Die Vorhänge waren nicht zugezogen. Zweige schwankten vor dem Fenster, voll von reinweißen Frühlingsblüten, die im Zwielicht schimmerten, aber der Wind, der auf die Scheiben drückte, kam von irgendwelchen nördlichen Schneefeldern her. Harriet löffelte ihre Suppe und brockte sich Brot hinein. Ihr Appetit war enorm, unersättlich. Obwohl sie sich furchtbar schämte, plünderte sie den Kühlschrank, wenn keiner es sah, und unterbrach ihre nächtlichen Wanderungen, um sich mit allem vollzustopfen, was sie fand. Sie richtete sich sogar geheime Verstecke ein, wie es Alkoholiker mit ihren Flaschen machen, nur waren es bei ihr Lebensmittel: Schokolade, Brot, Pasteten.
    David begann zu erzählen: »Es war einmal ein Geschwisterpärchen, das ging eines Tages auf Abenteuer aus. Sie gingen tief in den Wald hinein. Es war ein heißer Sommertag, aber unter den Bäumen war es kühl. Dann sahen sie ganz nahe einen Hirsch, der dalag und sich ausruhte. Vögel schwirrten umher und sangen ihnen etwas vor.«
    David hielt inne, um einen Löffel Suppe zu essen. Helen und Luke saßen da und sahen ihren Vater unverwandt an. Jane hörte auch zu, aber anders. Mit ihren vier Jahren guckte sie zuerst nach, wie die Großen reagierten, und machte es dann genauso: Sie richtete die Augen wie gebannt auf David.
    »Singen die Vögel auch für uns?«, fragte Luke zweifelnd, mit gerunzelter Stirn. Er hatte ein klar konturiertes, ernstes Gesicht und wollte es immer ganz genau wissen. »Wenn wir im Garten sind und die Vögel hören, singen sie dann für uns?«
    »Natürlich nicht, du Blödmann«, sagte Helen. »Der Wald war doch verzaubert!«
    »Die Vögel singen immer für euch«, sagte Dorothy bestimmt.
    Die Kinder, deren erster Hunger gestillt war, saßen mit dem Löffel in der Hand da und sahen mit großen Augen auf ihren Vater. Harriets Herz wurde schwer. Sie waren so offen, so voller Vertrauen, so hilflos. Auf dem Bildschirm wurde gerade sachlich kühl von einigen Morden in einem Londoner Vorort berichtet. Harriet stand schwerfällig auf, um das Gerät abzuschalten, schleppte sich von da zum Herd, holte sich noch einen Teller Suppe, brockte wieder Brot hinein. Dabei hörte sie David zu, der heute als Erzähler an der Reihe war. Wie oft hatten sich seine, ihre und Dorothys Stimme in dieser Küche abgewechselt!
    »Die Kinder bekamen Hunger, und was stand da wohl? Ein Strauch voller Schokoladenriegel. Dann kamen sie an einen Teich, der bestand aus Orangensaft. Nun wurden sie aber müde. Sie legten sich zu dem netten Hirsch unter einen Busch. Als sie aufwachten, bedankten sie sich bei dem Hirsch und gingen weiter.
    Plötzlich merkte die Kleine, dass sie allein war. Sie hatte ihren Bruder verloren. Sie wollte nach Hause, aber wusste den Weg nicht mehr. Vergebens sah sie sich nach dem freundlichen Hirsch oder irgendeinem Vogel um, der ihr hätte sagen können, wo sie war und wo es aus dem Wald herausging. Lange wanderte sie aufs Geratewohl dahin, und dann bekam sie wieder Durst. Sie fand einen Teich und dachte, es wäre vielleicht wieder Orangensaft, aber diesmal war es Wasser, reines, klares Waldwasser, und es schmeckte nach Pflanzen und Steinen. Sie trank, so: aus den flachen Händen.«
    Hier griffen die beiden Älteren automatisch nach ihren Bechern und tranken ebenfalls, während Jane versuchte, es dem Vater gleichzutun und mit den Händen eine Schale zu bilden.
    »Sie setzte sich am Rand des Teiches nieder. Bald würde es dunkel werden. Sie beugte sich über das Wasser, vielleicht könnte ihr ein Fisch den Weg aus dem Wald weisen. Aber dann sah sie etwas ganz Unerwartetes. Es war das Gesicht eines Mädchens, das aus der Wassertiefe zu ihr aufblickte. Sie hatte dieses Gesicht in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen. Das fremde Mädchen lächelte, aber es war ein böses, gar nicht freundliches Lächeln, und unsere Kleine dachte schon, das fremde Mädchen würde nach ihr greifen und sie zu sich ins Wasser ziehen …«
    Dorothy, die diese Wendung zu gruselig für eine Gutenachtgeschichte fand, zog hörbar den Atem ein.
    Aber die Kinder saßen vor Spannung wie versteinert. Der kleine Paul, dem es auf Alice’ Schoß langweilig wurde, heimste von Helen ein »Nun sei bloß still!« ein.
    »Phyllis, unser kleines Mädchen hieß Phyllis, hatte noch nie so unheimliche Augen gesehen.«
    »Ist das die Phyllis aus meinem

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