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Das fünfte Kind. Roman

Das fünfte Kind. Roman

Titel: Das fünfte Kind. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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sie sich zur Ruhe zwang, klang ihre Stimme zornig und anklagend: »Können Sie mir nachsagen, ich sei ein unvernünftiges Weibsbild? Hysterisch? Wehleidig? Ja? Eine jämmerliche kleine Hysterikerin?«
    »Ich kann nur sagen, dass Sie am Rand Ihrer Kräfte sind. Müde bis in die Knochen. Aber Ihre früheren Schwangerschaften waren auch nicht ganz leicht, haben Sie das vergessen? Viermal hintereinander habe ich Sie hier mit allen möglichen Schwangerschaftsbeschwerden in der Praxis sitzen gesehen, und, alle Achtung, Sie sind doch immer recht gut damit fertiggeworden.«
    »Aber diesmal ist es anders, verstehen Sie nicht,
in jeder Hinsicht
anders. Ich begreife nicht, dass Sie es nicht selbst bemerken. Können Sie es nicht
sehen
?« Sie streckte den Bauch vor, der auf und ab wogte, als ob es darin kochte.
    Der Arzt sah unschlüssig hin, seufzte und schrieb ein weiteres Rezept für Beruhigungsmittel aus.
    Nein, er konnte es nicht sehen. Vielmehr, er wollte es nicht sehen. Das war der springende Punkt. Nicht nur er, sie alle, sie
wollten
nicht sehen, was hier passierte.
    Wieder ging Harriet die Feldraine entlang, lief immer schneller, rannte beinahe, und dabei ergriff sie in ihrer Fantasie das große Küchenmesser, schnitt sich selber den Bauch auf und holte das Kind heraus. Und wenn sie einander nach diesem langen, blinden Kampf endlich ins Auge sahen, was würde sich zeigen?
    Bald danach, fast einen Monat zu früh, setzten die Wehen ein. Wenn es einmal so weit war, hatte die Geburt früher nie lange gedauert. Dorothy rief David in London an und brachte Harriet sofort in die Klinik. Zum ersten Mal hatte Harriet selbst darum gebeten, zur Überraschung aller.
    Bei ihrer Ankunft im Krankenhaus hatte sie bereits heftige Presswehen, die schlimmer waren als alles, was sie je zuvor erlebt hatte. Das Kind schien sich gewaltsam den Weg nach draußen erkämpfen zu wollen. Harriet war innerlich wund und zerrissen, sie spürte es. Da drinnen musste es aussehen wie auf einem Schlachtfeld, und niemand würde es je erfahren. Als es dann endlich so weit war, dass man ihr eine Narkose gab, rief sie laut: »Gott sei Dank, Gott sei Dank, es ist vorbei!« Irgendwann hörte sie eine Frauenstimme sagen: »Das ist aber mal ein strammer kleiner Kerl, seht euch das an!« Und dann: »Mrs. Lovatt, Mrs. Lovatt, sind Sie wieder da? Kommen Sie, es ist alles überstanden! Ihr Mann ist auch hier. Sie haben einen gesunden Jungen.«
    »Ein richtiger kleiner Ringkämpfer«, sagte Doktor Brett. »Er hat beim Rauskommen gleich die ganze Welt bedroht.«
    Sie richtete sich unter Schwierigkeiten etwas auf, denn die untere Hälfte ihres Körpers war zu wund, um bewegt zu werden. Man legte ihr das Baby in die Arme. Einen Elfpfünder! Keines der anderen Kinder hatte mehr als sieben Pfund gewogen. Das Neugeborene war muskulös, gelblich, mit langem Rumpf. Es stemmte die Füße gegen Harriets Brust, als ob es aufstehen wollte.
    »Ein drolliger kleiner Bursche«, sagte David betreten.
    Er war kein schönes Baby. Genauer gesagt, er sah überhaupt nicht wie ein Baby aus. Der Kopf saß zu tief zwischen den massigen Schultern, sodass er sogar im Liegen geduckt wirkte. Die niedrige Stirn trat von den Brauen bis zur Scheitelhöhe deutlich zurück. Das dicke, semmelblonde Stoppelhaar wuchs ihm ungewöhnlich spitz bis in die Stirn, und auch an den Seiten und am Hinterkopf reichte es tief hinunter. Seine Hände waren plump und kurzfingrig, mit ausgeprägten Muskelballen an den Innenflächen. Seine Augen waren gleich offen, und er sah seiner Mutter gerade ins Gesicht. Es waren zielgerichtete grünlich gelbe Augen, wie zwei Kugeln aus Seifenstein. Harriet hatte darauf gewartet, einen ersten sprechenden Blick mit dem Geschöpf zu tauschen, das ihr, dessen war sie sicher, mit Absicht wehgetan hatte, aber sie fand kein Zeichen des Erkennens. Und ihr Herz krampfte sich vor Mitleid zusammen: armer kleiner Sünder, den seine eigene Mutter derart verabscheute. Zugleich hörte sie sich selbst mit nervösem Lachen sagen: »Er sieht aus wie ein Troll oder ein Kobold oder so was«, und sie hätschelte ihn, um ihre Worte abzuschwächen. Aber er machte sich steif und schwer, wenigstens schien es ihr so.
    »Na, na, Harriet«, sagte Doktor Brett vorwurfsvoll.
    Und sie dachte: »Dieser verdammte Doktor hat mich in vier Schwangerschaften kennengelernt, und ich habe mich immer prächtig gehalten, und nun benimmt er sich wie ein Schulmeister.«
    Sie machte ihre Brust frei und bot sie dem Kind an.

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