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Das fünfte Kind. Roman

Das fünfte Kind. Roman

Titel: Das fünfte Kind. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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möglich war, mied die Hauptstraßen und hielt stets ein Auge auf das Deckenbündel hinter ihr. Ungefähr auf halber Strecke fing es an, sich zuckend zu bewegen. Ben wurde mit einem Wutschrei wach, drosch um sich und landete prompt auf dem Boden des Autos, wo sich das dünne, mehr automatische Gewimmer, das Harriet in der Anstalt vernommen hatte, in ein Angstgebrüll verwandelte, das alles vibrieren ließ. Eine halbe Stunde lang hielt Harriet die dumpfen Tritte aus, die Ben dem Wagen versetzte, und suchte verzweifelt nach einer Ausweichstelle, wo noch kein anderer Wagen stand. Als sie endlich eine fand, hielt sie an und holte bei laufendem Motor die Spritze aus dem Handschuhfach. Von einigen Krankheiten ihrer Kinder her wusste sie, wie man damit umging. Sie öffnete eine der Ampullen, auf der kein Markenzeichen stand, und zog die Flüssigkeit durch die Kanüle in die Spritze. Ben hatte sich losgestrampelt und war, bis auf die Zwangsjacke, nackt und blau vor Kälte. Seine Augen funkelten sie hasserfüllt an. »Er erkennt mich nicht«, dachte Harriet. Sie wagte weder, die Zwangsjacke zu lösen, noch, die Spritze zu hoch anzusetzen. Schließlich erwischte sie ihn an einem seiner Fußgelenke, stach ihm die Nadel in die Wade und wartete, bis er still wurde und erschlaffte, was binnen weniger Sekunden geschah. Was mochte das für ein Zeug sein?
    Sie wickelte Ben sorgfältig wieder in die Decken ein und bettete ihn auf den Rücksitz. Von nun an benutzte sie die Hauptstraßen, um rascher nach Hause zu kommen. Etwa um acht kam sie an. Die Kinder würden noch am Küchentisch sitzen, und David war sicher auch da: Er war bestimmt nicht zur Arbeit gegangen.
    Harriet betrat mit dem Deckenbündel, das Bens Kopf mit einhüllte, das geräumige Wohnzimmer und blickte über die niedrige Trennwand hinüber, wo sie alle um den Tisch saßen. Luke. Helen. Jane. Der kleine Paul. Und David, mit versteinertem Gesicht. Er war entsetzt. Und sehr müde.
    Harriet erklärte: »Sie hätten ihn umgebracht!« Und sie sah, dass David es ihr nie verzeihen würde, dass sie das vor den Kindern so offen ausgesprochen hatte. Auf allen Gesichtern spiegelte sich die blanke Angst.
    Sie ging geradewegs die Treppe hinauf, durch das eheliche Schlafzimmer in die »Baby-Kammer« und legte Ben aufs Bett. Er erwachte eben aus seiner Betäubung. Und dann ging alles von vorn los: das Kämpfen, das Aufbäumen, das Schreien. Er fiel über die Bettkante, ehe Harriet zupacken konnte, rollte sich auf dem Boden herum und trat auf die Dielen ein, und seine Augen loderten vor Hass.
    Unmöglich, ihm die Zwangsjacke abzunehmen.
    Harriet ging wieder in die Küche hinunter und holte Milch und Plätzchen, während die übrige Familie ihr schweigend und regungslos zusah.
    Bens Geschrei und Poltern ließen die Wände erbeben.
    »Gleich wird die Polizei kommen«, sagte David. »Sorge lieber dafür, dass die anderen ruhig bleiben«, befahl Harriet und ging mit ihrem Tablett hinauf. Als Ben sah, was sie brachte, verstummte er, und der Hass in seinen Augen verwandelte sich in Gier. Sie hob ihn wie eine kleine Mumie hoch und setzte ihm den Milchbecher an die Lippen, und er verschluckte sich beinahe vor Hast. Er war halb verhungert. Sie steckte ihm kleine Gebäckstücke in den Mund und achtete darauf, dass ihm dabei nicht ihre Finger zwischen die Zähne kamen. Als nichts mehr da war, ging das Gebrüll und Gestrampel von Neuem los. Harriet gab ihm die zweite Spritze.
    Die Kinder saßen jetzt vor dem Fernsehapparat, sahen aber nicht hin. Jane und Paul weinten. David saß am Tisch, den Kopf in beide Hände gestützt.
    Harriet sagte ganz leise, sodass nur er es hören konnte: »Schön, vielleicht ist es unrecht, was ich getan habe. Aber dort wäre er ermordet worden.«
    Er rührte sich nicht. Sie stand abgewandt da. Sie wollte ihm jetzt nicht ins Gesicht sehen.
    Sie sagte: »In zwei Monaten wäre er tot gewesen. Vielleicht schon in ein paar Wochen.«
    Schweigen.
    Schließlich drehte sie sich doch um. Es war kaum auszuhalten. David sah krank und elend aus, aber das war es nicht …
    »Ich habe es nicht ertragen«, sagte sie.
    Er erwiderte unumwunden: »Ich dachte, das war der Zweck der Übung?«
    Sie schrie auf: »Ja! Aber du hast es nicht gesehen, du hast es nicht gesehen …!«
    »Davor hab ich mich wohlweislich gehütet«, sagte er. »Was hast du dir denn vorgestellt? Dass er dort zu einem wohlangepassten Mitglied der menschlichen Gesellschaft erzogen würde, und danach sei alles in

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