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Das fünfte Kind. Roman

Das fünfte Kind. Roman

Titel: Das fünfte Kind. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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zehn Jugendlichen, alle ohne Arbeit, und gelegentlich waren auch ein paar Mädchen dabei. Harriet hielt sich nicht mit langen Vorreden auf, denn sie wusste, dass mittlerweile alle ihre Lage kannten und verstanden – das heißt, wenn es sich nicht gerade um Ärzte oder andere Fachleute handelte.
    Sie setzte sich zu den jungen Leuten und sagte, es werde noch zwei Jahre dauern, vielleicht auch mehr, bis Ben in die Schule komme. Für den Kindergarten sei er nicht geeignet. Sie sah John bei dem Wort »geeignet« gerade in die Augen, und er nickte lediglich. Sie, Harriet, würde sich freuen, wenn er, John, sich tagsüber um Ben kümmern wollte. Sie würde gut dafür zahlen.
    »Meinen Sie, ich soll zu Ihnen ins Haus kommen?«, fragte John, dem das gar nicht gefallen hätte.
    »Das überlasse ich Ihnen«, sagte Harriet. »Er mag Sie, John. Er vertraut Ihnen.«
    John sah seine Kumpel an, die sich untereinander mit den Augen berieten. Dann nickte er.
    Von nun an kam er fast jeden Morgen gegen neun und holte Ben mit seinem Motorrad ab, und Ben fuhr überglücklich und lachend mit ihm davon, ohne auch nur einen Blick zurück zu seiner Mutter, seinem Vater oder seinen Geschwistern zu senden. Die Abmachung sah vor, dass Ben den ganzen Tag, bis zum Abendessen, von zu Hause wegblieb, aber oft kam er erst viel später. Ben wurde ein fester Bestandteil dieser Gruppe arbeitsloser junger Leute, die auf den Straßen herumlungerten, sich in Cafés die Zeit vertrieben, ab und zu einmal einen Gelegenheitsjob übernahmen, ins Kino gingen und mit Motorrädern oder geliehenen Autos durch die Gegend rasten.
    Die Familie Lovatt war wieder eine Familie. Nun ja, beinahe. David kehrte ins eheliche Schlafzimmer zurück. Doch blieb eine Distanz zwischen ihm und Harriet, die er geschaffen hatte und nun aufrechterhielt, weil Harriet ihn zu tief verletzt hatte – und sie verstand das. Sie ließ ihn wissen, dass sie jetzt die Pille nahm. Für sie beide war es ein trüber Moment, denn damit fiel alles, wofür sie früher eingestanden waren, in sich zusammen. Beide hatten es als tiefes Unrecht empfunden, der Natur auf diese Weise ins Handwerk zu pfuschen. Die Natur! Sie erinnerten sich daran, wie sie sich einst so unbedingt und in jeder Hinsicht auf sie verlassen hatten.
    Harriet rief Dorothy an und fragte, ob sie für eine Woche kommen könne. Dann bat sie David, mit ihr irgendwo Ferien zu machen. Seit Lukes Geburt waren sie nicht mehr miteinander allein gewesen. Sie suchten und fanden ein stilles ländliches Gasthaus, wanderten viel und behandelten einander ungeheuer rücksichtsvoll. Beiden tat dabei das Herz weh, aber damit mussten sie nun wohl für den Rest ihrer Tage leben. Manchmal, besonders in ihren heitersten Augenblicken, kamen ihnen plötzlich die Tränen. Und nachts, wenn sie in Davids Armen lag, wusste Harriet, dass nichts mehr so war, wie es sein sollte, dass es nie wieder so werden würde wie früher.
    Einmal sagte sie: »Und wenn wir doch täten, was wir uns damals vorgenommen haben … ich meine, weiter Kinder bekommen?«
    Sie spürte, wie sein ganzer Körper in Ablehnung erstarrte.
    »Als ob nichts geschehen wäre?«, fragte er schließlich, und sie merkte, wie gespannt er auf ihre Antwort war. Er konnte es nicht fassen, nicht glauben, er traute seinen Ohren nicht!
    »Noch einen Ben würden wir sicher nicht bekommen, wieso auch?«
    »Um einen zweiten Ben geht es hier nicht«, erwiderte er schließlich in so ausdruckslosem Ton, dass sein Zorn umso fühlbarer wurde.
    Harriet erkannte, dass er nur mühsam eine Anschuldigung unterdrückte, von der sie sich seit Monaten in ihren eigenen Gedanken zu befreien suchte: Sie hatte der ganzen Familie einen tödlichen Schlag versetzt, als sie Ben aus der Anstalt zurückgeholt hatte.
    »Wir könnten mehr Kinder haben«, insistierte sie.
    »Und die vier, die wir haben – die zählen nicht?«
    »Vielleicht würde es uns alle wieder zusammenbringen, alles wiedergutmachen …«
    David schwieg, und in diesem Schweigen hörte sie selbst, wie falsch ihre Worte geklungen hatten.
    Nach einer Weile fragte er, so emotionslos wie zuvor: »Und was ist mit Paul?« Denn es war eindeutig Paul, der den größten Schaden genommen hatte.
    »Er wird schon darüber hinwegkommen«, sagte sie hoffnungslos.
    »Er wird nie darüber hinwegkommen, Harriet.« Jetzt bebte seine Stimme von allem, was er unterdrückte.
    Da wandte sich Harriet ab und weinte noch lange.
    Als die Sommerferien in Sicht waren, schrieb Harriet

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