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Das fünfte Kind. Roman

Das fünfte Kind. Roman

Titel: Das fünfte Kind. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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mehr zum Gutenachtsagen zu ihnen kommen und, wenn sie kränkelten, nicht mehr nach ihnen sehen konnte. Sie mochte die Kinder nicht bitten, ihre Türen nicht abzuschließen, und noch weniger wollte sie die Angelegenheit an die große Glocke hängen, indem sie Spezialschlösser einsetzen ließ, die mit einem besonderen Schlüssel von außen geöffnet werden konnten. Aber die ganze Sache setzte ihr ziemlich zu, sie fühlte sich von den Kindern verstoßen und abgelehnt. Manchmal schlich sie nachts auf Zehenspitzen an ihre Türen und bat flüsternd um Einlass, der ihr auch gewährt wurde. Dann gab es ein kleines Festival der Küsse und Umarmungen, aber alle mussten an Ben denken, der unverhofft hereinkommen konnte … Und er kam, auf leisen Sohlen, stand im Türrahmen und starrte auf eine Szene, die er nicht verstand.
    Harriet hätte am liebsten auch ihre eigene Tür abgeschlossen. David versuchte es ins Lächerliche zu ziehen, indem er sagte, wenn sie es nicht tue, so werde er es demnächst tun. Mehr als einmal war sie schon aus dem Schlaf hochgefahren und hatte Ben im Halbdunkel vor dem Ehebett stehen sehen, wie er sie stumm anstarrte. Baumschatten aus dem Garten spielten an der Decke, die Wände des großen Raumes wichen ins Unbestimmte zurück, und da im Halbdunkel stand dieses unheimliche Kind, dessen steinerner Blick sie lautlos aus dem Schlaf gerissen hatte.
    »Geh wieder schlafen, Ben«, sagte sie dann mit beherrschter Stimme, um sich ihre tiefe Furcht nicht anmerken zu lassen. Was mochte er denken, wenn er einfach so dastand und die schlafenden Eltern ansah? Wollte er ihnen etwas tun? Oder trieb ihn ein inneres Elend herum, von dem sie, Harriet, nicht die leiseste Ahnung hatte, weil er für immer von der Normalität dieses Hauses und seiner Menschen ausgeschlossen war? Hätte auch er sie gern umarmt wie die anderen Kinder und wusste nur nicht, wie? Aber wenn sie ihn ihrerseits in die Arme nahm, reagierte er wie ein Klotz, ohne Wärme, als ob er gar nichts spürte.
    Nur gut, dass er tagsüber fast nie da war.
    »Ich finde, die Lage normalisiert sich«, sagte sie zu David und hoffte auf Trost und Bestätigung. Aber er zuckte nur flüchtig die Achseln und sah sie nicht an.
    Immerhin waren die beiden Jahre, bevor Ben schulpflichtig wurde, nicht allzu schlimm. Harriet blickte später geradezu dankbar auf sie zurück.
    Als Ben fünf Jahre alt geworden war, erklärten Luke und Helen, sie würden nun am liebsten in ein Internat gehen. Sie waren dreizehn und elf Jahre alt. Natürlich widersprach das allen Grundsätzen, die Harriet und David früher vertreten hatten. So sagten sie Nein und fügten noch hinzu, dass sie es sich auch gar nicht leisten könnten. Aber wieder einmal mussten die Eltern erfahren, wie viel die Kinder schon verstanden, besprachen und planten – und dann auch danach handelten. Luke hatte von sich aus an Großvater James geschrieben, Helen an Großmutter Molly. Das teure Schulgeld würde bezahlt werden.
    Luke sagte auf seine vernünftige, sachliche Art: »Die beiden finden auch, das Internat ist besser für uns. Wir wissen, dass ihr nichts dafür könnt, aber wir mögen Ben nun mal nicht.«
    Dieses Gespräch fand statt, nachdem Harriet eines Morgens heruntergekommen war, Luke und Helen, Jane und Paul im Schlepptau, und Ben auf dem großen Tisch kauernd angetroffen hatte, wo er ein rohes Hähnchen mit Zähnen und Klauen zerriss. Er hatte den Kühlschrank, dessen Tür noch offen stand, ausgeräubert und den Inhalt über den Boden verstreut, offenbar in einem seiner unkontrollierbaren Anfälle. Jetzt grunzte er befriedigt über seiner Beute, und alles an ihm pulsierte von ungestümer Kraft. Als seine Mutter und seine Geschwister hereinkamen, blickte er von den Fleischfetzen auf und knurrte. Aber als Harriet schalt: »Pfui, Ben, was machst du da!«, wurde er fast auf der Stelle zahm, stand auf, sprang vom Tisch herunter und sah sie an, die baumelnden Reste des Hähnchens noch in der Hand.
    »Armer Ben Hunger gehabt!«, jammerte er.
    Er hatte sich angewöhnt, sich selbst »armer Ben« zu nennen. Hatte er das von irgendwem gehört? Hatte jemand von den jungen Burschen oder Mädchen, mit denen er herumzog, einmal gesagt »armer Ben«, und er hatte erkannt, dass er damit gemeint war? Betrachtete er sich selbst als »arm«? Wenn ja, so war dies ein Charakterzug an ihm, der bisher verborgen geblieben war und einem das Herz brach, genauer gesagt, der Harriet das Herz brach.
    Die Kinder hatten kein Wort zu

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