Das fünfte Kind. Roman
dieser Szene gesagt. Sie hatten sich zum Frühstück an den sauber abgewischten Tisch gesetzt, einander Blicke zugeworfen, dabei aber weder Harriet noch Ben angesehen.
Trotz allem gab es keine Möglichkeit, Ben von der Schulpflicht zu befreien. Harriet hatte es aufgegeben, ihm vorzulesen, mit ihm zu spielen, ihm irgendetwas beibringen zu wollen: Er lernte nichts. Aber sie wusste, dass die Behörden das nicht verstehen würden, zumindest würde es niemand zugeben oder gar anerkennen. Sie würden mit Recht einwenden, dass Ben schon eine Menge wusste, was ihn halbwegs zu einem sozialen Wesen machte. Er kannte einzelne Zusammenhänge. »Grüne Ampel: Gehen. Rote Ampel: Warten.« Oder: »Halbe Portion Chips – halber Preis von ganzer Portion.« Oder: »Mach die Tür zu, es zieht.« – Solche Wahrheiten, die er vermutlich von John hatte, brachte er mit halb singender Stimme vor und blickte dann jedes Mal zu Harriet, um eine Bestätigung zu bekommen. »Iss mit einem Löffel, nicht mit den Fingern!« – »Schau dich an Straßenecken erst einmal um!« Zuweilen hörte Harriet ihn diese Merksätze nachts im Bett in einer Art Sprechgesang vor sich hin sagen, wieder und wieder. Er dachte wohl schon an die Wonnen des nächsten Tages.
Als Harriet ihm sagte, bald müsse er in die Schule, protestierte er heftig. Sie sagte, alle Kinder müssten das und auch er komme nicht darum herum. Aber an den Wochenenden und in den Ferien dürfe er weiter mit John herumziehen. Vergebens, es gab Geschrei, Wutanfälle, Verzweiflung, stundenlanges »Neeiiin«-Gebrüll. Das ganze Haus hallte davon wider.
John wurde herbeigerufen und kam mit drei anderen aus seiner Bande in die Küche. John redete Ben, laut Harriets Anweisungen, gut zu: »Nun hör mal, Kumpel. Zuhören, verstanden? Jeder muss in die Schule. Wir waren auch drin.«
»Kommst du mit?«, fragte Ben, an Johns Knie gelehnt und vertrauensvoll zu ihm aufblickend. Das heißt, seine Stellung und sein emporgewandtes Gesicht drückten so etwas wie Vertrauen aus, seine Augen aber schienen vor Angst ganz in ihren Höhlen versunken zu sein.
»Nein. Aber ich bin brav zur Schule gegangen, als ich musste.« Die vier jungen Leute lachten, denn natürlich hatten sie oft geschwänzt, wie alle ihresgleichen. Heute war es sowieso egal. »Ich war in der Schule, klar. Rowland war in der Schule. Harry war in der Schule.«
»Ist doch klar!«, bestätigten sie im Chor und spielten ihre Rollen.
»Und ich auch«, sagte Harriet. Aber Ben beachtete sie gar nicht: Sie zählte für ihn nicht.
Schließlich einigten sie sich folgendermaßen: Harriet würde Ben morgens zur Schule bringen, und John sollte ihn nach dem Unterricht abholen. Die Stunden zwischen Schulschluss und Schlafengehen würde er auch weiterhin mit John und der Gang verbringen dürfen. »Um der Familie willen«, dachte Harriet, »um der anderen Kinder willen … und auch meinet- und Davids wegen. Obwohl er abends später und später aus London zurückkommt.«
Wie sie sah und spürte, war die Familie mittlerweile auseinandergebrochen. Luke und Helen waren in zwei verschiedenen Internaten. Jane und Paul gingen in dieselbe Schule wie Ben, aber in höhere Klassen, sodass sie nicht viel mit ihrem jüngsten Bruder zu tun hatten. Jane war ein standfestes, vernünftiges und ruhiges Mädchen, das durchaus imstande war, sich zu behaupten wie Luke und Helen. Sie kam nach der Schule selten gleich nach Hause und blieb lieber noch bei ihren Freundinnen. Aber Paul kam. Er war dann allein mit Harriet, und das, dachte sie, war sein innerstes Bedürfnis. Er war verwöhnt, schrill, schwierig und wehleidig. Wo war der reizende, süße kleine Junge geblieben, fragte sie sich, ihr Paul, während er jammerte und nörgelte, ein schlaksiger Bengel mit großen blauen Augen, die immer noch sanft waren, jetzt aber oft ins Nichts starrten oder gegen alles protestierten. Er war zu dünn. Er war immer ein schlechter Esser gewesen. Harriet holte ihn von der Schule ab und versuchte ihn mit Leckereien zum Essen zu bringen, oder sie setzte sich zu ihm und las oder erzählte Geschichten. Doch Paul hatte nicht die Fähigkeit, sich lange auf irgendetwas zu konzentrieren, er rutschte ruhelos herum und träumte vor sich hin. Dann kam er zu Harriet, um sie zu berühren, oder er krabbelte auf ihren Schoß wie ein viel kleineres Kind, nie ganz beruhigt, nie zufrieden. Er hatte keine Mutter gehabt, als er sie brauchte, das war das Problem, und alle wussten es. Wenn Paul das Motorrad
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