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Das fünfte Kind. Roman

Das fünfte Kind. Roman

Titel: Das fünfte Kind. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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wohlüberlegte Briefe an alle früheren Stammgäste, in denen sie andeutete, dass Ben fast nie im Hause war. Sie kam sich treulos und verräterisch vor, aber gegen wen?
    Einige kamen wirklich. Nicht jedoch Molly und Frederick, die ihr beide nicht verziehen, dass sie Ben zurückgeholt hatte; sie würden es ihr nie verzeihen, dessen war sie sich sicher. Aber Sarah kam mit Amy und mit Dorothy, die jetzt Amys Schutz und Schirm gegen die ganze Außenwelt war. Amys Brüder und Schwestern verbrachten den Sommer zusammen mit Angelas Kindern, und die Kinder der Lovatts wussten, dass sie nur wegen Ben auf die vertraute Feriengesellschaft verzichten mussten. Deborah machte eine Stippvisite. Sie hatte in der Zwischenzeit geheiratet und war schon wieder geschieden – eine superschlanke, elegante junge Frau, mit zunehmend bissigem Witz, aber für die Kinder eine reizende, impulsive, unpädagogische Tante, die sie mit teuren und unpassenden Geschenken überschüttete. Und auch James kam. Er sagte mehrmals, dieses Haus sei wie ein Bienenstock, aber es war nett gemeint. Dann waren da noch ein paar entferntere Verwandte, die gerade nichts Besseres zu tun hatten, und ein Kollege Davids.
    Und wo steckte Ben? Eines Tages war Harriet zum Einkaufen in der Stadt, als sie hinter sich ein Motorrad aufheulen hörte. Sie drehte sich um und sah ein unkenntlich vermummtes Wesen, vermutlich John, wie einen Raumfahrer über dem Lenker hocken, und hinter ihm, eng an ihn geklammert, ein Zwergenkind: ihren Sohn Ben, der mit weit offenem Mund sein Freudengeheul ausstieß. Ekstatisch. Harriet hatte ihn noch nie so gesehen. Glücklich? War das das richtige Wort?
    Sie wusste, dass Ben inzwischen für die jungen Leute so eine Art Maskottchen geworden war. Sie gingen grob mit ihm um, fand Harriet, auf jeden Fall nicht besonders freundlich, nannten ihn den Irren, Gartenzwerg, Hobbit und Gremlin. »Hey, Irrer, steh mir nicht im Weg!« – »Geh und hol mir ’ne Zigarette von Bill, Hobbit.« Und Ben war glücklich. Frühmorgens stand er schon am Fenster und wartete, dass einer seiner »Kumpel« ihn abholte. Wenn sie ihn enttäuschten und anriefen, um zu sagen, heute hätten sie keine Zeit für ihn, geriet er in Rage und trampelte brüllend im Haus herum.
    All das kostete eine schöne Stange Geld. John und seine Bande machten sich auf Kosten der Lovatts gute Tage. Das Geld kam jetzt nicht mehr ausschließlich aus der Tasche von Bens Großvater James, denn David nahm jede Art von Zusatzarbeit an. Und die jungen Leute hatten keinerlei Hemmungen, die Lage auszunutzen.
    »Wenn Sie wollen, nehmen wir Ben mit ans Meer.«
    »Oh ja, das wäre eine gute Idee.«
    »Kostet aber mindestens zwanzig Pfund – allein schon der Sprit.«
    Und die Maschinen donnerten der Küste zu, vollgepackt mit jungen Männern und ihren Mädchen, und Ben mitten unter ihnen. Wenn sie ihn zurückbrachten, hieß es: »Wir haben leider ein bisschen mehr ausgegeben.«
    »Wie viel?«
    »Noch zehn Pfund.«
    »Wie schön für ihn«, sagte dann vielleicht ein Verwandter, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass ein kleiner Junge einfach so von Fremden auf einen Ausflug mitgenommen wurde.
    Kam er nach Hause, nachdem er sich einen ganzen Tag lang in Johns Gesellschaft froh und sicher gefühlt hatte, rau behandelt zwar und herumgestoßen, aber doch akzeptiert, so stand er dann am großen Küchentisch, wo die Familie saß und wo ihn alle ernst, bedeutsam und sorgenvoll anblickten. »Gib mir Brot«, sagte er. »Gib mir Kekse.«
    »Setz dich doch«, sagten dann Luke oder Helen oder Jane (niemals Paul) in dem höflichen, geduldigen Ton, den sie ihm gegenüber stets anschlugen und der Harriet so schmerzte.
    Dann kletterte er energisch auf einen Stuhl und gab sich Mühe, wie sie zu sein. Er wusste, dass er nicht mit vollem Mund reden oder mit offenem Mund essen sollte. Er beachtete diese Vorschriften sorgfältig und hielt alle animalischen Regungen zurück, bis er den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte und sagte: »Bin satt. Möchte ins Bett.«
    Er schlief nun nicht mehr in der »Baby-Kammer«, sondern ein Zimmer weiter, auf dem gleichen Flur wie die Eltern. (Das »Baby-Zimmer« stand leer.) Sie schlossen ihn auch nicht mehr ein: Schon das Geräusch eines Schlüssels, der sich im Schloss drehte, oder eines Riegels versetzte ihn in tobsüchtige Angst. Dafür schlossen sich jetzt die anderen Kinder ganz leise ein, wenn sie schlafen gingen. Die natürliche Folge war, dass Harriet nie

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