Das fünfte Kind. Roman
er sie nicht mehr ignorieren konnte, und fragte: »Ben, erinnerst du dich noch an das Haus, in das du damals gebracht worden bist? Mit dem kleinen schwarzen Bus?«
Er erstarrte. Langsam wandte er ihr das Gesicht zu. Der Brotrest in seiner Hand zitterte, weil er am ganzen Leib zitterte. Oh ja, er erinnerte sich! Harriet hatte ihm nie zuvor mit der Anstalt gedroht, weil sie immer gehofft hatte, es wäre nicht mehr nötig.
»Weißt du es noch, Ben?«
Seine Augen flackerten wild. Er wollte vom Tisch springen und davonlaufen, war aber wie gelähmt. Er stierte um sich, in alle Ecken, zu den Fenstern, zur Treppe, als wollte man ihn von allen Seiten her angreifen.
»Hör gut zu, Ben, und merk dir eins: Wenn du je, je, jemals wieder jemandem wehtust, bringen wir dich dorthin zurück.«
Sie hielt seinen Blick fest und hoffte, dass er nicht verstand, was sie nur für sich innerlich hinzufügte: »Natürlich brächte ich das nie über mich, niemals.«
Er saß da, schauderte wie ein nasser, frierender Hund, und seine krampfartigen, unbewussten Bewegungen zeigten, dass jene Zeit in ihm nachwirkte. Mit einer Hand schützte er sein Gesicht und spähte angstvoll durch die Finger. Dann ließ er die Hand fallen, wandte den Kopf ab und presste den anderen Handrücken auf den Mund. Darüber starrten entsetzte Augen ins Leere. Einen Moment lang entblößte er drohend die Zähne, hielt dann aber inne und hob den Kopf, als wollte er ein langes, tierisches Geheul in die Luft entsenden. Ihr war, als hörte sie es schon, dieses grausig einsame Geheul …
»Hast du mich verstanden, Ben?«, fragte sie sanft.
Er rutschte vom Tisch und trampelte die Treppe hinauf, eine dünne Urinspur hinter sich lassend. Sie hörte ihn seine Tür zuknallen und gleich danach das Angst- und Wutgebrüll, das er so lange zurückgehalten hatte.
Sie erreichte John telefonisch in »Betty’s Caff«. Er kam sofort, allein, wie sie ihn gebeten hatte.
Nachdem er sich Harriets Bericht angehört hatte, ging er in Bens Zimmer hinauf. Harriet blieb lauschend an der Tür stehen.
»Hobbit, du weißt nicht, wie stark du bist. Das ist das Schlimme an dir. Du darfst anderen Leuten nicht wehtun.«
»Bist du böse auf Ben? Wirst du Ben verhauen?«
»Von Bösesein ist keine Rede«, sagte John, »aber wenn
du
Leute verhaust, hauen sie zurück.«
»Wird Mary Jones mich verhauen?«
Kurzes Schweigen. Sogar John schien verdutzt zu sein.
»Nimmst du mich mit ins Café? Bitte ja, bitte gleich!«
Harriet hörte, wie John nach einer sauberen Latzhose suchte und Ben überredete hineinzusteigen. Sie ging rasch nach unten. Kurz darauf kam auch John, Ben fest an der Hand. John zwinkerte Harriet zu und streckte ermutigend einen Daumen hoch. Dann fuhr er mit Ben auf seinem Motorrad davon. Sie machte sich auf den Weg, um Paul nach Hause zu holen.
An einem der nächsten Tage bat sie Doktor Brett, einen Termin mit einem Spezialisten zu arrangieren. »Und bitte stellen Sie mich nicht wieder gleich als idiotische Hysterikerin hin«, sagte sie.
Doktor Brett gab ihr die Adresse einer Psychotherapeutin.
Harriet fuhr mit Ben nach London. Dort überließ sie ihn der Obhut der Sprechstundenhilfe, denn Frau Doktor Gilly wünschte ein Kind zuerst ganz allein zu sprechen, ohne die Eltern. Das klang vernünftig. Vielleicht war das endlich die richtige Adresse?, dachte Harriet, als sie in einem kleinen Café in der Nähe saß, fragte sich dann aber sofort: »Was meine ich damit? Worauf hoffe ich diesmal? Nichts weiter«, sagte sie sich, »als dass jemand endlich die rechten Worte findet, die furchtbare Last mit mir teilt.« Nein, auf völlige Befreiung hoffte sie schon längst nicht mehr, nicht einmal auf wesentliche Änderungen. Nur dass jemand sie verstand, ihre Bemühungen anerkannte.
War das noch möglich oder denkbar? Zwischen Sehnsucht nach Hilfe und kaltem Zynismus hin- und hergerissen –
was hatte sie denn zu erwarten!
–, kehrte sie in die Praxis zurück und fand Ben dort zusammen mit der Schwester in einem kleinen Raum neben dem Wartezimmer. Ben stand mit dem Rücken zur Wand und belauerte jede Bewegung der Fremden wie ein verängstigtes Tier. Als er seine Mutter sah, stürzte er auf sie zu und versteckte sich hinter ihr.
»Also, Ben!«, sagte die Schwester beleidigt. »So brauchst du dich nicht anzustellen!«
Harriet sagte ihm, er solle sich hinsetzen und auf sie warten; sie komme gleich zurück. Er verzog sich hinter einen Stuhl und stand da, ohne den Blick von der Schwester
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