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Das fünfte Kind. Roman

Das fünfte Kind. Roman

Titel: Das fünfte Kind. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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hörte, mit dem Ben nach Hause gebracht wurde, brach er manchmal in Tränen aus oder schlug sogar vor lauter Verzweiflung mit dem Kopf gegen die Wand.
    Als Ben bereits einen Monat die Schule besuchte, ohne dass Klagen kamen, wagte Harriet die Lehrerin zu fragen, wie er sich denn mache. Zu ihrer Überraschung hörte sie: »Er ist ein braver kleiner Kerl. Er gibt sich solche Mühe!«
    Aber gegen Ende des ersten Halbjahrs wurde Harriet telefonisch zur Schuldirektorin bestellt. »Mrs. Lovatt, ich weiß nicht, ob Sie …«
    Die tüchtige Frau war über alles, was in ihrer Schule vorging, natürlich genau im Bilde, und sie wusste, dass Harriet der hauptverantwortliche Elternteil von Luke, Helen, Jane und Paul war.
    »Wir sind alle ratlos«, sagte sie. »Ben gibt sich wirklich Mühe. Aber er passt nicht recht zu den anderen Kindern. Schwer zu sagen, woran das liegt.«
    Harriet saß da, wie sie schon viel zu oft, so schien es ihr, in Bens kurzem Leben dagesessen hatte, und wartete auf die Bestätigung, dass es sich bei Ben um mehr handelte als um Anpassungsschwierigkeiten.
    »Er war schon immer ein bisschen komisch«, bemerkte sie.
    »Ach, ein bisschen aus der Art geschlagen, in der Familie? Na, das ist ja die Regel, ich erlebe es oft«, sagte Mrs. Graves leutselig. Während das Gespräch weiter an der Oberfläche blieb, lauschte Harriet, die dafür einen besonderen Sinn entwickelt hatte, auf das, was sich zwischen den Zeilen heraushören ließ. Niemand konnte sich davon frei machen, der über Ben sprach.
    »Ist es nicht ein etwas ungewöhnliches Arrangement«, lächelte Mrs. Graves, »dass Ben immer von diesen jungen Männern abgeholt wird?«
    »Er ist ja auch ein ungewöhnliches Kind«, sagte Harriet mit einem direkten Blick auf Mrs. Graves, die nickte, ohne den Blick zu erwidern. Sie runzelte die Stirn, als ob ihr ein unbehaglicher Gedanke zu schaffen machte, den sie jedoch nicht weiterzuverfolgen wünschte.
    »Haben Sie je ein Kind wie Ben in Ihrer Schule gehabt?«, fragte Harriet.
    Damit riskierte sie, dass die Schulleiterin fragte: »Was meinen Sie damit, Mrs. Lovatt?«
    Und tatsächlich fragte Mrs. Graves: »Was meinen Sie damit, Mrs. Lovatt?«, aber, um Harriet nicht antworten zu lassen, fügte sie sehr schnell hinzu: »Er ist hyperaktiv, nicht wahr? Natürlich ist das ein Wort, das die Sache nicht ganz trifft. Man sagt im Grunde wenig, wenn man ein Kind hyperaktiv nennt. Aber Ben hat nun mal diese überschüssige Energie. Er kann nicht lange stillsitzen. Nun ja, viele Kinder können das nicht. Seine Lehrerin hält ihn für einen vielversprechenden kleinen Jungen, da er sich Mühe gebe, aber sie sagt, sie brauche für ihn mehr Kraft als für alle anderen zusammen … Nun ja, Mrs. Lovatt, vielen Dank für Ihren Besuch, er hat uns weitergeholfen.«
    Als Harriet ging, spürte sie den Blick der Schulleiterin auf ihrem Rücken, diesen langen, besorgten, forschenden Blick, der alles ausdrückte: Unruhe, ja sogar Grauen – alles, was sich nur zwischen den Zeilen hatte heraushören lassen.
    Gegen Ende des zweiten Halbjahrs wurde Harriet angerufen: Sie möge bitte unverzüglich kommen. Ben habe jemanden verletzt.
    Es war so weit. Das hatte sie immer gefürchtet. Ben war plötzlich rabiat geworden und hatte ein größeres Mädchen auf dem Schulhof angefallen. Er hatte sie zu Boden gerissen, auf den harten Asphalt, wo sie sich die Beine aufgeschlagen hatte. Dann hatte er sie gebissen und ihr mit Gewalt den Arm gebrochen.
    »Ich habe schon mit Ben gesprochen«, sagte Mrs. Graves. »Er scheint es nicht im Mindesten zu bereuen. Man könnte meinen, er weiß überhaupt nicht, was er da wieder angestellt hat. Aber in seinem Alter sollte er allmählich wissen, was er tut.«
    Harriet fuhr sofort mit Ben nach Hause. Paul wollte sie später abholen, auch wenn sie ihn viel lieber gleich mitgenommen hätte: Der Junge hatte natürlich von dem Vorfall gehört und verfiel in hysterische Zustände. Er schrie, Ben würde auch ihn umbringen! Aber Harriet musste jetzt erst einmal mit Ben allein sein.
    Ben saß auf dem Küchentisch, ließ die Beine baumeln und aß ein Brot mit Marmelade. Er fragte nur, ob John ihn heute zu Hause abholen würde. Alles, was er brauchte, war John.
    »Ben«, sagte Harriet, »du hast die arme Mary Jones schwer verletzt. Warum hast du das getan, Ben?«
    Er hörte gar nicht hin, sondern biss große Stücke von dem Brot ab und schluckte sie fast unzerkaut hinunter.
    Harriet setzte sich so dicht vor ihn, dass

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