Das fünfte Kind. Roman
zu lassen.
Dann saß Harriet einer sehr klug und erfahren aussehenden Frau gegenüber, der man bestimmt schon erzählt hatte, Harriet war dessen sicher, dass sie es mit einer überspannten Mutter zu tun hatte, die mit ihrem fünften Kind nicht fertigwurde.
»Kommen wir gleich zur Sache, Mrs. Lovatt«, sagte Doktor Gilly. »Das Problem liegt nicht bei Ben, sondern bei Ihnen. Sie mögen ihn nicht besonders.«
»Oh mein
Gott
!«, explodierte Harriet. »Kommen Sie mir nicht wieder damit!« Sie sah, wie die Ärztin auf ihren weinerlich-entrüsteten Ton reagierte. »Das haben Sie von Doktor Brett«, sagte sie. »Sie reden es ihm einfach nach.«
»Nun, Mrs. Lovatt, ist es denn so unwahr? Ich möchte zu Ihrer Beruhigung sagen, dass Sie nichts dafür können. Außerdem ist es nicht ungewöhnlich. Wir können uns nicht aussuchen, was in dieser Lebenslotterie für uns herauskommt. Und ein Kind zu bekommen ist immer ein Glücksspiel. Manche haben Pech. Vor allem dürfen Sie sich dann keine Selbstvorwürfe machen.«
»Ich werfe mir nichts vor«, sagte Harriet. »Allerdings erwarte ich nicht mehr, dass Sie mir glauben. Aber es ist ein schlechter Scherz. Seit Bens Geburt soll ich immer an allem schuld sein. Ich fühle mich wie eine Kriminelle. Ständig wird dafür gesorgt, dass ich wie eine Verbrecherin dastehe.« Als sie diese Anklage hervorbrachte, konnte Harriet ihre Stimme nicht mehr mäßigen, Jahre der Verbitterung brachen sich ihre Bahn. Frau Doktor Gilly blickte währenddessen wortlos auf ihren Schreibtisch. »Es ist schon erstaunlich! Kein Mensch, buchstäblich keiner, hat je zu mir gesagt: ›Was für eine prächtige Mutter bist du! Vier herrliche, normale, hübsche, begabte Kinder! Sie machen dir alle Ehre. Gut gemacht, Harriet!‹ Finden Sie es nicht auch seltsam, dass niemand je ein Wort darüber verloren hat? Aber über Ben zerreißen sich alle die Mäuler: Und ich bin eine Kriminelle!«
Die Ärztin fragte nach einer kurzen Bedenkpause: »Sie stoßen sich daran, dass Ben nicht begabt ist, oder?«
»Oh mein Gott!«, stöhnte Harriet auf. »Genau
darum
geht es!«
Die beiden Frauen maßen einander mit Blicken. Harriet resignierte allmählich; die Ärztin war wütend, ohne es zu zeigen.
»Sagen Sie mir eins«, fuhr Harriet endlich fort, »wollen Sie damit ausdrücken, dass Ben eigentlich ein ganz normales Kind ist? Dass er keinerlei Auffälligkeit zeigt?«
»Sein Verhalten liegt im Bereich des Normalen. Wie ich höre, ist er nicht besonders gut in der Schule, aber die meisten Spätentwickler holen im Laufe der Zeit alles wieder auf.«
»Es ist nicht zu glauben«, sagte Harriet. »Hören Sie, unternehmen Sie irgendetwas! Oh, in Ordnung, aber tun Sie mir einen Gefallen: Lassen Sie Ben zu uns hereinbringen.«
Doktor Gilly überlegte einen Moment und sagte dann etwas in ihre Sprechanlage.
Sie hörten Ben draußen »Nein, nein!« brüllen, dann die eindringliche Stimme der Schwester.
Die Tür öffnete sich. Ben erschien auf der Schwelle: Er wurde von der Schwester ins Zimmer geschoben. Die Tür schloss sich hinter ihm. Ben wich zurück und starrte die Ärztin an.
Seine Schultern waren leicht vorgestreckt, die Knie etwas gebeugt, als duckte er sich zum Sprung oder zur Flucht. Er war klein, aber breit und untersetzt, das fahlgelbe struppige Haar wuchs ihm immer noch spitz in die niedrige Stirn mit den starken, wulstigen Brauen. Seine platte Nase mit den flatternden Nüstern war vorn etwas aufgebogen. Sein Mund war dick und formlos, die Augen glichen grünlich stumpfen Steinen. Harriet dachte zum ersten Mal: »Er sieht viel älter aus als ein Sechsjähriger, viel älter. Man könnte ihn fast für einen zwergwüchsigen Mann halten, keinesfalls für ein Kind.«
Die Ärztin sah Ben an. Harriet beobachtete sie beide. Nach kurzer Stille sagte die Ärztin: »Es ist gut, Ben, du kannst wieder hinausgehen. Deine Mutter kommt gleich nach.«
Ben stand wie versteinert. Die Ärztin sprach wieder in ihren Apparat, worauf sich die Tür öffnete und Ben außer Sichtweite gezerrt wurde. Er stieß ein drohendes Knurren aus.
»Nun, Doktor Gilly, was meinen Sie jetzt?«
Die Ärztin wirkte beleidigt, blieb aber auf der Hut und überlegte offenbar, wie sie diese Unterredung am schnellsten beenden könnte. Sie gab keine Antwort.
Statt ihrer ergriff Harriet das Wort, und obwohl sie wusste, dass es keinen Zweck hatte, sagte sie es, sie wollte es endlich ausgesprochen hören: »Er ist kein menschliches Wesen, nicht wahr?«
Wider
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