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Das fünfte Kind. Roman

Das fünfte Kind. Roman

Titel: Das fünfte Kind. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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wachsamen, fremdartigen Augen. Und sie dachte: »In Wirklichkeit ist er nicht jünger als die anderen! Er ist kürzer und breiter, ja. Aber es sieht fast aus, als beherrschte er sie.« Wenn sie alle um den großen Familientisch saßen und in ihrem lauten, groben, anzüglichen und bewusst albernen Jargon miteinander redeten, sahen sie stets auf Ben. Dabei sprach er immer noch sehr wenig, und wenn, so war es selten mehr als »Ja« oder »Nein«, »Gib her«, »Nimm das«, »Hol mal jenes«, was das nun auch sein mochte, ein Brot oder eine Flasche Cola. Doch beobachtete er sie alle genau, unablässig. Er war der Boss dieser Clique, ob es ihnen nun bewusst war oder nicht.
    Sie waren ein Haufen unselbstständiger, unsicherer, pickliger junger Burschen. Ben war ein junger Erwachsener. Harriet musste sich zu dieser Erkenntnis durchringen, obwohl sie eine Zeit lang geglaubt hatte, dass diese armen Kinder, die zueinandergefunden hatten, weil sie als dumm, faul und ungeschickt galten, als unfähig, mit ihren Altersgenossen Schritt zu halten, dass sie sich an Ben hielten, weil er noch schwerfälliger und unartikulierter war als sie. Aber nein! Sie entdeckte, dass »Ben Lovatts Gang« die meistbewunderte und -beneidete in der Schule war und dass sich eine Menge Jungen, nicht nur die Schulschwänzer und Versager, danach rissen, ihr anzugehören.
    Wenn Harriet Ben inmitten seiner Gefolgschaft sah, versuchte sie sich ihn mit einer Horde seiner eigenen Spezies vorzustellen, wie sie alle am Eingang einer Höhle um ein loderndes Feuer herumhockten. Oder in einer Pfahlbausiedlung im Urwald? Nein, Bens Leute waren tief unter der Erde daheim, da war sie sich ganz sicher, in schwarzen Schächten, Gängen und fackelerhellten Grotten; das passte zu ihnen. Wahrscheinlich waren Bens sonderbare Augen für ganz andere Lichtverhältnisse geschaffen worden.
    Sie saß oft völlig allein in der Küche, wenn Ben und die Seinen sich jenseits des niedrigen Raumteilers vor der Glotze rekelten. Das taten sie stundenlang, vom Nachmittag bis tief in den Abend hinein. Sie machten sich Tee, plünderten den Kühlschrank oder holten von irgendwoher Hamburger, Chips und Pizzas. Die Programme schienen ihnen ganz einerlei zu sein. Sie sahen sich Nachmittagsserien an und stellten auch das Kinderprogramm nicht ab. Aber am meisten genossen sie die harten Sachen am Abend: Schießereien und Gewalt, Mord und Totschlag, das war ihre Nahrung. Harriet sah, wie sie zusahen: als wären sie gar keine Zuschauer mehr, sondern nähmen tatsächlich an den Geschehnissen auf dem Bildschirm teil. Bei Schlägereien machten sie unbewusst jede Bewegung mit, fletschten grausam oder triumphierend die Zähne, stöhnten oder stießen anfeuernde Schreie aus: »Los, gib’s ihm!« – »Reiß ihm den Arsch auf!« – »Mach ihn fertig, zerleg ihn!« Und das wollüstige Stöhnen schwoll an, je mehr Kugeln einen Körper durchsiebten, Blut spritzte und das Folteropfer sich schreiend aufbäumte.
    In diesen Tagen waren die Lokalblätter voll von Meldungen über Raubüberfälle, Diebstähle und Einbrüche. Manchmal tauchte Bens Gang einen ganzen Tag lang nicht bei den Lovatts auf, zwei Tage, drei Tage.
    »Ben, wo bist du gewesen?«
    Er erwiderte gleichgültig: »Bei meinen Freunden.«
    »Ja, aber wo?«
    »Überall in der Gegend rum.«
    Also im Park, im Café, im Kino oder, wenn sie die Möglichkeit hatten, sich ein paar Motorräder zu leihen (oder zu stehlen?), vielleicht auch in einer der Städte an der Küste.
    Harriet überlegte, ob sie den Schuldirektor anrufen sollte, aber dann dachte sie: »Was soll’s? Ich an seiner Stelle wäre auch nur zu froh, wenn sie sich nicht sehen ließen.«
    Die Polizei? Ben in den Händen der Polizei?
    Die Bande hatte immer beunruhigend viel Geld. Mehr als einmal, wenn der Inhalt des Kühlschranks sie enttäuschte, schafften sie wahre Festmähler heran und aßen den ganzen Abend lang. Derek (niemals Ben!) bot ihr manchmal etwas davon an.
    »Wie wär’s mit ’nem kleinen Happen, Schätzchen?« Und sie nahm etwas, blieb aber allein sitzen, weil sie wusste, dass man sie nicht zu nah dabeihaben wollte.
    In den Zeitungsnachrichten war jetzt auch von Vergewaltigungen die Rede …
    Harriet prüfte heimlich eines der Gesichter nach dem anderen und versuchte sie mit dem in Verbindung zu bringen, was sie gelesen hatte. Ganz gewöhnliche junge Männer; eigentlich schienen sie doch alle schon älter als fünfzehn oder sechzehn. Derek hatte etwas Albernes an sich, bei

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