Das fünfte Paar
Jahren einen Lehrgang in Forensischer Anthropologie besucht hatte. Als ich mit meiner Schachtel in die Halle trat, in der eingetopfte Orchideen blühten und Touristenstimmen durcheinanderredeten, wünschte ich mir, unbeschwert zwischen Dinosauriem, Mumien und Mastodons herumwandern zu können und nie die makaberen »Schätze« gesehen zu haben, die diese Mauem ebenfalls beherbergten.
Die deckenhohen Schubladenschränke; die die Flure zu Nadelöhren verengten und die ursprünglich geräumigen Zimmer auf Kammergröße reduzierten, enthielten abgesehen von anderen toten Dingen mehr als dreißigtausend menschliche Skelette. Knochen jeglicher Art kamen Tag für Tag per Einschreiben auf Dr. Alex Vesseys Schreibtisch. Manche waren archäologische Funde, andere entpuppten sich als Bärentatzen, Biberpfoten oder Kälberschädel, die im Straßengraben gelegen hatten oder beim Pflügen ausgegraben worden waren und von Laien für Überreste eines Menschen gehalten wurden, der ein gewaltsames Ende gefunden hatte. Doch viele Pakete enthielten tatsächlich schlechte Neuigkeiten - Knochen von Ermordeten. Abgesehen von seiner Eigenschaft als Kurator des Museums und seiner Arbeit als Naturwissenschaftler, war' Dr. Vessey für das FBI tätig und half Leuten wie mir bei der Beantwortung strittiger Fragen.
Nachdem mich der grimmig dreinblickende Sicherheitsbeamte, der vor der »Zutritt verboten« - Abteilung Wache hielt, durchgelassen hatte, klipste ich meinen Besucherausweis an den Mantel und steuerte auf den Lift zu, der mich in den zweiten Stock hinaufbrachte. Als ich durch den spärlich beleuchteten Flur ging, befiel mich ein Anflug von Platzangst. Ich erinnerte mich daran, wie ich damals nach acht Stunden an diesem morbiden Ort so ausgehungert nach Sinnesreizen gewesen war, daß ich anschließend die überfüllten Bürgersteige und den Verkehrslärm als unendliche Erleichterung empfunden hatte.
Ich fand Dr. Vessey dort, wo ich ihn auch das letzte Mal gesehen hatte: in einem Labor, in dem sich Stahlkästen stapelten, die Skelette von Vögeln und anderen Tieren, Zähne, Oberschenkelknochen und Unterkiefer enthielten. Regale waren mit weiteren Knochen, menschlichen Schädeln und Schrumpfköpfen gefüllt. Dr. Vessey, weißhaarig und mit dicken Brillengläsern, saß hinter dem Schreibtisch und telefonierte. Während er sein Gespräch beendete, öffnete ich die mitgebrachte Schachtel und suchte den Plastikbeutel mit dem Knochen von Deborahs linkem Zeigefinger heraus.
»Das ist die Tochter der Drogen-Zarin, nicht wahr?« vergewisserte er sich, als erden Beutel entgegennahm.
Eine etwas seltsame Formulierung - aber aus seiner Sicht korrekt: Für ihn war Deborah auf dieses Untersuchungsobjekt reduziert - auf ein Beweisstück.
»Ja«, nickte ich.
Er nahm den Knochen heraus und drehte ihn unter dem Punktstrahler langsam hin und her. »Ich kann Ihnen ohne Zögern sagen, daß dies kein postmortaler Schnitt ist. Alte Schnitte können frisch aussehen - aber frische Schnitte niemals alt. Die Innenseite des Schnittes weist die charakteristische Färbung auf, und auch die Tatsache, daß die Wundränder zurückgebogen sind, zeigt mir, daß er keinem toten Knochen zugefügt wurde: Lebendige Knochen sind elastisch - tote nicht.«
»Zu genau diesem Schluß bin ich auch gekommen.« Ich zog mir einen Stuhl heran. »Aber ich wollte es mir doch noch von Ihnen bestätigen lassen.«
»Das ist auch gut so.« Er schob seine Brille etwas herunter und sah mich über ihren Rand hinweg an. »Womit ich Ihre Befähigung nicht in Frage stellen möchte - aber vier Augen sehen manchmal wirklich mehr als zwei. Sie würden nicht für möglich halten, was hier alles landet.«
»Ich denke doch«, erwiderte ich: Der von Staat zu Staat unterschiedliche Grad pathologischer Kompetenz war mir durchaus bekannt.
»Vor ein paar Monaten«, erzählte Dr. Vessey, »schickte mir ein Gerichtsmediziner ein Gewebestück mit Knochen, von dem er behauptete, es stamme von einem neugeborenen Kind, das in einem Abwasserkanal gefunden worden sei - er könne nur Geschlecht und Rasse nicht feststellen. Die Antwort lautete: Männlicher Beagle, zwei Wochen alt. Kurz davor bekam ich von einem seiner Kollegen ein Skelett, das in einem flachen Grab entdeckt worden war. Der gute Mann hatte keine Ahnung, woran die Person gestorben war. Ich zählte vierzig Schnitte mit zurückgebogenen Rändern - Lehrbuchbeispiele für die Elastizität lebender Knochen.«
Er nahm die Brille ab und putzte sie
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