Das fünfte Paar
mit dem Saum seines Laborkittels. »Natürlich bekomme ich auch anderes auf den Tisch - Knochen, die während der Autopsie versehentlich verletzt wurden.«
»Könnte diese Wunde ein Tier verursacht haben?« fragte ich, obwohl ich diese Möglichkeit für mich bereits ausgeschlossen hatte.
»Oftmals kann man Schnitte nur sehr schwer von Nagetierbissen unterscheiden - aber hier bin ich sicher, daß wir es mit einem Messer zu tun haben.« Er stand auf und setzte fröhlich hinzu: »Schauen wir es uns mal genauer an.«
Die anthropologische Kleinarbeit, die mich zum Wahnsinn trieb, machte Dr. Vessey sichtlich Vergnügen: Voller Begeisterung und Neugier trat er zum Seziermikroskop und legte den Knochen auf den Objektträger. Nach einem langen Blick durch das Okular, während dessen er den Knochen im Licht hin und her drehte, sagte er: »Das ist ja interessant!«
Ich wartete.
»Und das ist der einzige Schnitt, den Sie festgestellt haben?«
»Ja«, antwortete ich. »Vielleicht entdecken Sie noch etwas - ich fand ansonsten nur das Loch von der Kugel, das ich erwähnte. Im zehnten Brustwirbel.«
»Sie sagten, die Kugel habe das Rückenmark durchschlagen.«
»Richtig. Das Mädchen wurde in den Rücken geschossen.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo das passierte?« fragte er.
»Sie lag im Wald - aber der Fundort muß nicht notwendigerweise auch der Tatort sein.«
»Und sie hat diesen Schnitt im Fingerknochen«, überlegte Dr. Vessey laut, während er wieder durch das Okular schaute. »Welche Verletzung kam zuerst? Nach dem Schuß muß sie querschnittgelähmt gewesen sein - aber ihre Hände könnte sie noch bewegt haben.«
»Sie meinen, sie hat sich gewehrt und dabei den Schnitt abbekommen?«
»Ungewöhnlich - aber möglich.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute zu mir auf. »In einem solchen Fall findet man die Verletzungen meist auf der Handinnenseite.« Er legte seine Hände mit den Handflächen nach oben hin. »Aber hier wurde die Außenseite getroffen.« Er drehte die Hände um. »Das legt eine bestimmte Schlußfolgerung nahe.« Er sah mich erwartungsvoll an.
»Faustschläge?«
»Genau! Wenn ich mit einem Messer auf Sie losgehe, und Sie wehren sich mit den Fäusten, werden Sie Verletzungen auf der Außenseite der Hand davontragen - es sei denn, Sie öffnen die Fäuste irgendwann. Was Deborah offenbar nicht getan hat. Im Gegensatz zur Mehrzahl der Menschen hat.sie nicht die Hände gehoben, um sich zu schützen, sondern auf den Angreifer eingeschlagen. Und etwas ist ganz deutlich zu erkennen: Die Wunde stammt von einer gezackten Klinge.«
»Dann hat der Täter sie nicht durch das Fleisch gezogen, sondern darauf eingehackt?« fragte ich verdutzt.
»Ja.« Dr. Vessey tat den Knochen wieder in den Plastikbeutel. »Das Zackenmuster zeigt, daß mindestens ein Zentimeter der Klinge die Hand getroffen haben muß.« Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. »Ich fürchte, mehr kann ich Ihnen zu der Waffe und den Tatumständen nicht sagen. Wie Sie wissen, gibt es unendlich viele Möglichkeiten. Ich kann Ihnen nicht die Länge der Klinge nennen und nicht beurteilen, ob die Verletzung dem Mädchen beigebracht wurde, bevor die Kugel sie traf oder danach, und in welcher Stellung sie sich befand, als sie versuchte, ihr Leben zu verteidigen.«
Deborah hätte auf dem Rücken liegen können, knien oder stehen - und auf dem Rückweg zu meinem Wagen begann ich, die Situation zu durchdenken. Der Schnitt mußte stark geblutet haben. Damit fiel der Jeep als Tatort aus, denn dort war kein Blut gefunden worden. Hatte die zierliche Leichtathletin mit ihrem Angreifer gerungen, versucht, ihn zu schlagen, verzweifelt um ihr Leben gekämpft, als ihr Freund bereits tot war? Warum schoß der Mörder auf Deborah, nachdem er Fred offensichtlich auf andere Weise getötet hatte? Ich war sicher, daß er dem jungen die Kehle durchschnitten hatte. Und ziemlich wahrscheinlich war er nach dem Schuß bei Deborah ebenso verfahren - oder er hatte sie erwürgt. Auf keinen Fall hatte er sie sterbend sich selbst überlassen. Sie war nicht querschnittgelähmt zu Fred gerobbt und hatte ihren Arm unter seinen geschoben - die Leichen waren so hingelegt worden.
Ich bog von der Constitution ab und fuhr auf der Connecticut in einen nordwestlich gelegenen Teil der Stadt, der einen recht armseligen Eindruck gemacht hätte - wenn da nicht das Washington Hilton gewesen wäre. Auf einem Gelände von der Grundfläche eines Häuserblocks erhob sich das
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