Das fünfte Paar
auf. Marino saß im US-Air-Terminal. Mit geschlossenen Augen, den zusammengerollten Mantel als Kissen zwischen Kopf und Wand, machte er in dem nach Aircondition riechenden, künstlich beleuchteten Raum mit dem blaugetüpfelten Teppichboden und den verwaisten Stühlen ein Nickerchen. Ich schaute auf ihn hinunter, und eine Welle von Wehmut und Zärtlichkeit stieg in mir hoch: Marino wurde alt.
Ich war erst einige Tage an meinem neuen Arbeitsplatz und gerade mit einer Autopsie beschäftigt, als ein großer Mann mit rundem Gesicht hereinkam und sich auf der anderen Seite des Tisches aufbaute. Er musterte mich kühl und prüfend. Ich hatte das Gefühl, ebenso gründlich seziert zu werden wie die Leiche vor mir.
»Sie sind also der neue Chief.«
Die Feststellung klang wie ein Angriff - als fände er es ungeheuerlich dreist, daß ich glaubte, eine Position ausfüllen zu können, die nie zuvor eine Frau innegehabt hatte.
»Ich bin Dr. Scarpetta«, antwortete ich. »Und Sie sind von der Richmond City Police, nehme ich an.«
Er murmelte seinen Namen und sah schweigend zu, wie ich mehrere Kugeln aus einem seiner Mordfälle entfernte. Ich übergab sie ihm, und er verließ den Raum ohne ein »Auf Wiedersehen« oder ein »Nett, Sie kennengelernt zu haben« - und damit waren die Fronten geklärt: Er lehnte mich aufgrund meines Geschlechts ab, und im Gegenzug strafte ich ihn als »vernagelten Macho« mit Verachtung. Doch in Wahrheit hatte er mich total eingeschüchtert.
Es war schwer für mich, mir jetzt vorzustellen, daß ich ihn jemals als bedrohlich empfunden hatte. Er sah alt und verbraucht aus, das Hemd spannte sich über seinem Bauch, das von grauen Strähnen durchzogene Haar war zerzaust, die Stirn zerfurcht von Falten, die von ständiger Anspannung und Verdruß herrührten. Ich legte ihm leicht die Hand auf die Schulter. »Guten Morgen.«
»Was ist in der Tüte?« fragte er, ohne die Augen zu öffnen.
»Ich dachte, Sie schliefen«, antwortete ich überrascht.
Er setzte sich auf und gähnte.
Ich ließ mich neben ihm nieder und öffnete die Tüte. Sie enthielt zwei Styrorporbecher mit Kaffee und Quark-Bagels, die ich zu Hause in der Mikrowelle aufgewärmt hatte, bevor ich in die Dunkelheit hinausging.
»Sie haben sicher nicht gefrühstückt.« Ich reichte ihm eine Serviette.
»Die sehen ja aus wie richtige Bagels«, staunte er.
»Sind es auch.«
»Ich dachte, Sie sagten, das Flugzeug starte um sechs.«
»Halb sieben - und das habe ich bestimmt auch gesagt. Aber wenn Sie mich falsch verstanden haben, dann sitzen Sie ja schon eine ganze Weile hier.«
»Allerdings.«
»Das tut mir leid.«
»Haben Sie die Tickets?«
»In der Handtasche.«
Manchmal hörten wir uns an wie ein altes Ehepaar.
»Wenn Sie mich fragen - ich bezweifle stark, daß Ihre Idee den Preis wert ist. Ich würde ihn nicht bezahlen - auch wenn ich das Geld hätte. Aber ich möchte nicht, daß Sie sich ruinieren, Doc: Ich würde mich bedeutend besser fühlen, wenn Sie wenigstens versuchen würden, die Reisekosten erstattet zu bekommen.«
»Ich würde mich dadurch nicht besser fühlen«, antwortete ich. Wir hatten schon viele ähnliche Gespräche geführt. »Ich werde keine Abrechnung einreichen und Sie ebensowenig. Eine Abrechnung einreichen heißt eine Papierspur hinterlassen. Und außerdem«, ich trank einen Schluck Kaffee, »kann ich es mir leisten.«
»Wenn ich mir dadurch sechshundert Bucks sparen könnte, würde ich eine Papierspur von hier bis zum Mond in Kauf nehmen.«
»Unsinn. Ich kenne Sie besser.«
»Unsinn ist richtig: Die Sache ist idiotisch.« Er schüttete mehrere Tütchen Zucker in seinen Kaffee. »Ich glaube, Ihre geliebte Abby Turncoat hat Sie mit ihrer Spinnerei angesteckt.«
Andere Passagiere fanden sich ein, und ich beobachtete fasziniert, wie Marino es schaffte, die geltende Ordnung außer Kraft zu setzen. Er hatte sich in der Nichtraucherzone niedergelassen und anschließend aus der Raucherabteilung einen Standaschenbecher geholt und neben seinen Stuhl gestellt. Dies wirkte als Aufforderung für andere Raucher, sich zu uns zu gesellen - und sie holten sich ihrerseits Aschenbecher herüber. Schließlich befanden sich kaum noch Aschenbecher in der Raucherzone, und niemand wußte so recht, wo er sich hinsetzen sollte.
Marino flog noch weniger gern als ich. In Charlotte stiegen wir in eine Propeller-Pendelmaschine um, die mir unangenehm deutlich werden ließ, wie wenig uns von der Luft draußen trennte. Dank meines Jobs
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