Das fünfte Paar
sahen wir ärmliche Häuser, die so weit auseinanderlagen, daß man eine Kanone hätte abfeuern können, ohne daß der Nachbar es hörte.
Hilda Ozimek - Hellseherin für das FBI, Orakel für den Geheimdienst - lebte in einem winzigen weißen Holzhäuschen mit weißgestrichenen Autoreifen davor, in denen im Frühling wahrscheinlich Stiefmütterchen und Tulpen blühten. Verdorrte Maisstengel lehnten an der Veranda. In der Auffahrt rostete ein Chevrolet mit vier platten Reifen vor sich hin. Ein räudiger Hund begann zu bellen - häßlich wie die Sünde und so groß, daß ich mir ernsthaft überlegte, ob ich es wagen sollte, auszusteigen. Dann trottete er, die rechte Vorderpfote schonend, zum Haus, als sich knarzend die Fliegentür öffnete und eine Frau, von der Sonne geblendet, zu uns herüberspähte.
»Sei still, Tooty.« Sie tätschelte dem Ungeheuer den Nacken. »Und jetzt geh brav nach hinten.« Das Tier wedelte mit dem Schwanz und humpelte gehorsam in den Garten.
»Guten Morgen«, sagte Marino, als er mit schweren Schritten die Verandatreppe hinaufstieg.
Er hatte offenbar beschlossen, zumindest höflich zu sein. Ich atmete auf.
»Es ist ein schöner Morgen«, antwortete Hilda Ozimek.
Sie mußte mindestens sechzig sein und sah aus wie eine Farmersfrau. Schwarze Polyesterhosen spannten sich über ausladenden Hüften, die beige Jacke war bis zum Hals zugeknöpft, und sie trug dicke Stricksocken und Pantoffeln. Der Blick ihrer hellblauen Augen war so klar wie der Winterhimmel, das Haar unter einem roten Tuch verborgen. In ihrem Mund fehlten mehrere Zähne. Ich bezweifelte stark, daß Hilda Ozimek je in einen Spiegel schaute oder sich um ihren Körper Gedanken machte - es sei denn, sie wurde durch eine Krankheit auf ihn aufmerksam gemacht. Wir wurden in ein kleines Wohnzimmer geführt, das mit altmodischen Möbeln vollgestopft war. An den Wänden Regale voller Bücher, die nach keinem erkennbaren System geordnet waren. Religion, Psychologie, Biographien und Geschichte - alles wild durcheinander. Und dazwischen entdeckte ich zu meinem Erstaunen eine beachtliche Anzahl von Romanen meiner Lieblingsautoren: Alice Walker, Pat Conroy und Keri Hulme. Die einzigen Hinweise auf die übersinnlichen Neigungen unserer Gastgeberin gaben mehrere Bücher von Edgar Cayce und rund ein halbes Dutzend Kristallkugeln, die auf Tischen und Borden lagen.
Marino und ich setzten uns auf das Sofa neben dem Kerosinofen, und Hilda Ozimek nahm uns gegenüber in einem Polstersessel Platz. Das Sonnenlicht schien durch die schräggestellten Lamellen der Jalousie und zeichnete weiße Striche auf ihr Gesicht.
»Ich hoffe, Sie hatten keine Schwierigkeiten, herzufinden«, sagte sie besorgt. »Es tut mir leid, daß ich Sie nicht abholen konnte - aber ich fahre nicht mehr.«
»Ihre Wegbeschreibung war ausgezeichnet«, beruhigte ich sie. »Wir hatten keine Probleme.«
»Nehmen Sie mir die Frage nicht übel«, wandte Marino sich an sie. »Aber wie kommen Sie hier zurecht? Ich habe nirgends in erreichbarer Nähe einen Laden gesehen.«
»Es kommen viele Leute her, damit ich ihnen die Karten lege - oder nur so zum Reden. Irgendwie kriege ich immer, was ich brauche. Oder ich kann mit jemandem mitfahren.«
Im Nebenzimmer klingelte das Telefon - und wurde augenblicklich von einem Anrufbeantworter zum Schweigen gebracht.
»Also - was kann ich für Sie tun?« fragte Hilda.
»Ich habe Fotos mitgebracht«, antwortete Marino. »Doc sagte, Sie wollten sie sehen. Aber vorher möchte ich noch was klären. Ich will Sie auf keinen Fall kränken, Miss Ozimek - aber ich habe nie viel vom Gedankenlesen gehalten. Vielleicht können Sie mir zu einem besseren Verständnis verhelfen.«
Es war ungewöhnlich für Marino, so offen zu sprechen - und ohne den leisesten aggressiven Unterton -, und ich warf ihm einen verblüfften Blick zu: Er musterte Hilda mit der Naivität eines Kindes. Auf seinem Gesicht mischten sich Neugier und Nachdenklichkeit.
»Lassen Sie mich zuerst sagen, daß ich keine Gedankenleserin bin«, stellte sie richtig, ohne im mindesten gekränkt zu sein. »Und auch mit dem Etikett "Hellseherin" bin ich nicht glücklich - aber mangels eines besseren lasse ich mich so bezeichnen. Wir alle haben diese Fähigkeit. Der sechste Sinn sitzt in einem Teil des Gehirns, den die meisten Menschen brachliegen lassen. Ich erkläre ihn als gesteigerte Intuition. Ich empfange Schwingungen von Menschen und äußere die Eindrücke, die sie mir vermitteln.«
»Und das
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