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Das fünfte Paar

Das fünfte Paar

Titel: Das fünfte Paar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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kannte ich den Anblick von kilometerweit verstreuten Wrack- und Leichenteilen nur zu gut. Es gab weder Toilette noch Getränkeservice, und als die Motoren angeworfen wurden, schüttelte sich das Flugzeug wie in Krämpfen. Eine Weile genoß ich die seltene Vergünstigung, die Piloten bei ihrer angeregten Unterhaltung beobachten zu können und sie sich räkeln und gähnen zu sehen - bis eine Stewardeß den Vorhang mit einem Ruck schloß. Wir gerieten in Turbulenzen, Berge tauchten geisterhaft aus dem Nebel auf und versanken wieder. Als die Maschine das zweite Mal abrupt an Höhe verlor und mein Magen in meinen Hals katapultiert wurde, umklammerte Marino seine Armlehnen so krampfhaft, daß die Fingerknöchel weiß hervortraten.
    »Grundgütiger!« murmelte er.
    Ich bedauerte, ihm Frühstück mitgebracht zu haben: Er sah aus, als müsse er sich jeden Moment übergeben.
    »Wenn dieser Seelenverkäufer in einem Stück unten ankommt, nehm' ich einen Drink - und es ist mir scheißegal, wie früh es noch ist.«
    »Und ich spendier' ihn«, sagte der Mann, der vor uns saß und sich zu uns umgedreht hatte.
    Marino starrte wie gebannt auf ein Phänomen im Gang. Von der Metalleiste am Rand des Teppichs stieg Dampf auf. So etwas hatte ich noch auf keinem Flug erlebt. Marino wollte die Stewardeß mit einem lauten »Was zum Teufel...« darauf aufmerksam machen, doch sie ignorierte ihn.
    »Das nächste Mal tu' ich Ihnen Phenobarbital in den Kaffee«, grinste ich.
    »Wenn Sie sich das nächste Mal entschließen, irgendeine verrückte Zigeunerin aufzusuchen, die in der hintersten Provinz haust, rechnen Sie nicht wieder mit meiner Begleitung«, knurre er mich an.
    Eine halbe Stunde kreisten wir, von Windböen gebeutelt, über Spartanburg. Dichter Nebel hinderte uns an der Landung, und ich begann mich tatsächlich mit dem Gedanken zu befassen, daß unser Leben ein unverhofftes Ende finden könnte. Ich dachte an meine Mutter. Und an Lucy - meine Nichte. Ich hätte Weihnachten nach Hause fahren sollen, aber ich war nicht in der Stimmung gewesen, mich nach Mark ausfragen zu lassen.
    »Ich habe zu tun, Mutter. Ich kann im Augenblick wirklich nicht weg.«
    »Aber es ist Weihnachten, Kay.«
    Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich meine Mutter das letzte Mal hatte weinen sehen - aber ich wußte immer, wann ihr danach zumute war: Ihre Stimme veränderte sich dann, und die Abstände zwischen den Worten wurden merklich größer.
    »Lucy wird sehr enttäuscht sein.« Veränderte Stimme, große Abstände zwischen den Worten. Sehr große.
    Ich schickte Lucy einen großzügigen Scheck und rief sie am Weihnachtsmorgen an. Sie vermißte mich schrecklich - aber ich glaube, ich vermißte sie noch mehr.
    Plötzlich rissen die Wolken auf, und die Sonne schien in die Fenster. Spontan fielen alle Passagiere - ich eingeschlossen - in einen Applaus für Gott und die Piloten. Wir feierten unser Überleben, indem wir uns kreuz und quer über den Gang unterhielten, als seien wir seit Jahren miteinander befreundet. »Vielleicht hat Hexe Hilda ihre schützende Hand über uns gehalten«, spöttelte Marino. Sein Gesicht war schweißbedeckt.
    »Vielleicht«, nickte ich und atmete tief durch, als das Fahrwerk den Boden berührte.
    »Vergessen Sie nicht, sich in meinem Namen bei ihr zu bedanken.«
    »Das können Sie selbst tun, Marino.«
    »Mmm«, brummte er. Inzwischen ging es ihm sichtlich besser.
    »Sie scheint sehr nett zu sein. Vielleicht schaffen Sie es ja dieses eine Mal, Ihre Engstirnigkeit ein wenig zu lockern.«
    »Mmm«, brummte er wieder.
    Als ich mir Hilda Ozimeks Telefonnummer vom Sekretariat des Directors geholt und sie angerufen hatte, erwartete ich eine gerissene und mißtrauische Person, die für jede Aussage die Hand aufhielt. Statt dessen machte sie einen bescheidenen und freundlichen Eindruck und erwies sich als erstaunlich gutgläubig: Sie stellte keine Fragen und verlangte keinen Beweis für meine Identität. Nur einmal klang sie beunruhigt: Als sie sagte, sie könne uns nicht vom Flughafen abholen.
    Da ich diesen Ausflug finanzierte und mir danach war, chauffiert zu werden, überließ ich Marino die Auswahl des Leihwagens. Wie ein Sechzehnjähriger auf seiner ersten Probefahrt in Richtung Männlichkeit entschied er sich für einen brandneuen Thunderbird - schwarz, mit Sonnendach, Radio-Kassettenrecorder, elektrischen Fensterhebern und Lederschalensitzen. Auf der Fahrt öffnete er das Schiebedach und drehte zum Ausgleich die Heizung voll auf. Ich

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