Das fünfte Paar
hinlänglich Erfahrung mit dem schleppenden Fortgang staatlicher Baumaßnahmen und sein Ausweichquartier daher so eingerichtet, als rechne er damit, für immer hier zu bleiben.
Seine Sekretärin begrüßte mich mit einem mitfühlenden Lächeln, das mein Unbehagen noch steigerte. Dann griff sie zum Telefon und kündigte mich an. Gleich darauf öffnete sich die schwere Eichentür gegenüber von ihrem Schreibtisch, und Dr. Sessions bat mich herein.
Sein braunes Haar wurde allmählich schütter, die große Brille schien sein schmales Gesicht zu erdrücken, der Brustkorb war eingefallen und der Körper so mager, daß er nur selten das Jackett auszog und auch im Sommer immer langärmelige Hemden trug, weil er ständig fror. Sein linker Arm, den er sich vor einigen Monaten bei einem Marathonlauf an der Westküste gebrochen hatte, als ihn ein Kleiderbügel zu Fall brachte, dem die Läufer vor ihm ausgewichen waren, war immer noch genagelt. Der Commissioner war der einzige Teilnehmer, der den Lauf nicht beendet hatte und trotzdem in die Zeitung kam. Dr. Sessions setzte sich hinter seinen Schreibtisch und sah mich mit ungewohnt strengem Blick an. Vor ihm lag Pat Harveys Brief. Er tippte mit dem Zeigefinger darauf.
»Ich nehme an, Sie haben das schon gesehen.
»Ja«, nickte ich, »Mrs. Harveys Interesse an den Ergebnissen der Untersuchung ihrer Tochter ist durchaus verständlich.«
»Deborahs Leiche wurde vor nunmehr elf Tagen gefunden. Soll ich aus Ihrer mangelnden Mitteilungsbereitschaft schließen, daß Sie noch immer nicht wissen, was ihren und Fred Cheneys Tod verursacht hat!«
»Woran sie gestorben ist, weiß ich - seine Todesursache ist noch ungeklärt.«
Er sah mich verdutzt an. »Dr. Scarpetta - würden Sie die Freundlichkeit haben, mir zu erklären, weshalb diese Informationen den Harveys und Fred Cheneys Vater bisher vorenthalten wurden?«
»Meine Erklärung ist einfach«, erwiderte ich. »Die Fälle sind noch in der Schwebe - es werden weitere Tests durchgeführt. Und das FBI hat mich ersucht, niemandem etwas mitzuteilen.«
»Ich verstehe.« Er starre die Wand an, als befände sich dort ein Fenster, durch das er hinausschauen könne.
»Wenn Sie mich anweisen, meine Berichte rauszugeben, werde ich das tun, Dr. Sessions. Um die Wahrheit zu sagen - ich wäre erleichtert, wenn Sie mir befehlen würden, Pat Harveys Forderung zu entsprechen.«
»Warum?« Er kannte die Antwort, doch er wollte sie von mir hören.
»Weil Mrs. Harvey und ihr Mann ein Recht darauf haben, zu erfahren, was mit ihrer Tochter geschehen ist«, sagte ich. »Und Bruce Cheney hat ein Recht, zu erfahren, was oder was nicht wir über seinen Sohn wissen. Die Warterei ist nervenaufreibend für sie.«
»Haben Sie mit Mrs. Harvey gesprochen?«
»Nicht kürzlich.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen, seit die Leichen gefunden wurden, Dr. Scarpetta?« Er sah mich durchdringend an.
»Ich rief sie an, als die Identität feststand - aber seitdem hatten wir keinen Kontakt mehr.«
»Hat sie versucht, Sie zu erreichen?«
»Das hat sie.«
»Und Sie haben sich geweigert, mit ihr zu sprechen?«
»Ich habe Ihnen bereits dargelegt, weshalb ich nicht mit ihr spreche«, erwiderte ich. »Ich kann ihr ja schlecht eröffnen, daß das FBI mich aufgefordert hat, ihr keine Informationen zu geben.«
»Dann haben Sie die Anordnung des FBI niemandem gegenüber erwähnt?«
»Nur Ihnen gegenüber - gerade eben.«
Er lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Das weiß ich zu schätzen. Bewahren Sie weiterhin Stillschweigen darüber - vor allem bei Reportern.«
»Ich tue mein Bestes, Reportern aus dem Weg zu gehen.«
»Heute früh bekam ich einen Anruf von der Washington Post.« »Wer war es?«
Er begann die Zettel durchzusehen, die er auf einen Silbernagel gespießt hatte. Mein Unbehagen wuchs von Sekunde zu Sekunde. Ich wollte nicht glauben, daß Abby hinter meinem Rücken und über meinen Kopf hinweg agierte.
»Ein Bursche namens Clifford Ring.« Er hob den Blick. »Er hat schon öfter hier angerufen - ich bin nicht der einzige, dem er Informationen zu entlocken versuchte. Er hat meine Sekretärin ausgefragt und andere Mitarbeiter meines Büros - inklusive meines Stellvertreters und des Secretary of Human Resources. Anscheinend hat er zunächst bei Ihnen angerufen und sich dann an die Verwaltung gewandt, da, wie er sich ausdrückte, der Medical Examiner sich verleugnen lasse.«
»Ich weiß nicht, ob ein Mr. Ring unter den Reportern war, die
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