Das fünfte Paar
Handfeuerwaffen, Gewehre, Schrotflinten und Maschinenpistolen füllten die Regale. In braunes Papier eingeschlagene Beweisstücke türmten sich brusthoch auf dem Boden. Ich kam gerade zu dem Schluß, daß alle bei Tisch seien, als ich durch eine Tür das gedämpfte Geräusch eines Schusses hörte: An das Labor grenzte ein kleiner Raum, in dem Waffen getestet wurden - durch Schüsse in einen wassergefüllten Tank aus galvanisiertem Stahl. Zwei Schüsse später kam Linda heraus, eine Achtunddreißiger Special in der einen und die abgefeuerten Patronen und leeren Hülsen in der anderen Hand. Sie war sehr schlank und weiblich, mit langen braunen Haaren, hohen Backenknochen und weit auseinanderstehenden haselnußbraunen Augen. Ein Laborkittel schützte den fließenden schwarzen Rock und die blaßgelbe Seidenbluse, die eine kleine goldene Kragennadel zierte. Hätte ich ihren Beruf erraten sollen - beispielsweise, während ich neben ihr im Flugzeug saß -, so hätte ich auf Dozentin für Lyrik oder Galeristin getippt.
»Schlechte Nachrichten, Kay.« Sie legte den Revolver und die gebrauchte Munition auf ihren Schreibtisch. »Hoffentlich nicht bezüglich der Patronenhülse, die Marino gebracht hat.«
»Ich fürchte, doch. Kommen Sie her.« Sie trat zum Vergleichsmikroskop. »Hier.« Sie bot mir ihren Stuhl an. »Das Bild sagt mehr als tausend Worte.«
Ich setzte mich, schaute durch das Okular und justierte die Schärfe. »Das verstehe ich nicht«, murmelte ich nach einem Blick auf die glänzende Patronenhülse: Am Innenrand waren die Initialen »J. M.« eingeritzt! »Ich dachte, das wäre die, die Marino Ihnen gegeben hat.«
»Ist sie ja. Er brachte sie so vor einer Stunde. Ich fragte, ob er die Buchstaben eingeritzt habe, und er verneinte. Ich hatte auch nicht ernsthaft angenommen, daß er es getan hätte, denn seine Initialen sind schließlich "P. M." und nicht "J. M." -und außerdem ist er zu gewissenhaft, um so was zu machen.«
Manche Detectives versahen Patronenhülsen ebenso mit ihren Initialen wie manche Medical Examiners Kugeln, die sie aus Leichen entfernten - eine Unart, die die Leute vom Schußwaffenlabor ihnen erfolglos abzugewöhnen versuchten. Das Gravieren ist riskant, weil die Gefahr besteht, daß man aus Versehen etwas verkratzt, das zur Identifizierung dienen kann. Marino wußte das. Ebenso wie ich beschriftete er grundsätzlich den Plastikbeutel, der das Beweismittel enthielt, und ließ den Inhalt unangetastet.
»Soll das heißen, daß die Initialen sich bereits auf der Hülse befanden, als Marino sie herbrachte?«
»So ist es.«
J.M.? Jay Morrell! dachte ich verwirrt. Wie konnte eine Patronenhülse, die in der Nähe der Lichtung gefunden wurde, seine Initialen aufweisen?
»Ich frage mich«, überlegte Linda laut, »ob einer der Beamten am Tatort aus irgendeinem Grund diese Hülse in seiner Tasche hatte und sie verlor, ohne es zu bemerken. Er könnte ja ein Loch in der Tasche gehabt haben.« »Das erscheint mir wenig glaubhaft.«
»Nun gut, ich habe noch eine zweite Theorie; aber sie wird Ihnen nicht gefallen - mir gefällt sie auch nicht sonderlich: Es könnte sich um eine wiederverwendete Hülse handeln.«
»Wer um alles in der Welt würde eine Patronenhülse wiederverwenden, die als Beweisstück markiert ist?«
»Kommt gar nicht so selten vor, Kay - aber das haben Sie nicht von mir, okay?«
Ich sah sie mit großen Augen an.
»Die Anzahl der Waffen und die Menge der Munition und Patronenhülsen, die von der Polizei sichergestellt und an die Gerichte übergeben werden, sind astronomisch groß und viel Geld wert. Die Leute werden immer knickeriger - auch Richter. Sie kassieren das Zeug und behalten es entweder oder verkaufen es an Waffenhändler oder Sammler. Ich denke, diese Patronenhülse wurde irgendwann von einem Polizisten gefunden und bei Gericht als Beweisstück vorgelegt - und wiederverwendet. Es ist gut möglich, daß derjenige, der die Patrone abfeuerte, keine Ahnung hatte, daß die Hülse gekennzeichnet war.«
»Wir können nicht beweisen, daß diese Hülse zu der Kugel gehört, die ich in Deborahs Wirbelsäule fand, solange wir die Waffe nicht haben«, sagte ich. »Wir können nicht einmal mit Sicherheit sagen, daß sie zu einem Hydra-Shock-Geschoß gehört. Alles, was wir wissen, sind das Kaliber und der Hersteller: Neun Millimeter, Federal.«
»Das stimmt. Aber Federal hat das Patent für Hydra-Shok-Munition - schon seit Ende der achtziger. Falls dieser Hinweis was wert
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