Das fünfte Verfahren
auf den Tisch gelegt, in einem Umschlag.“
„Haben Sie ihn wiedergesehen?“
„Das ist wirklich seltsam... Ich war
noch zwei- oder dreimal im Rich, aber ihn hab ich dort nicht mehr
gesehn. Ich hab mir nichts dabei gedacht, aber jetzt...“
„Jetzt?“
„Na ja, jetzt finde ich das reichlich
seltsam.“
„Das ist es auch“, stimmte ich ihm zu.
„Kennen Sie außer dem Café Riche einen Ort, wo ich ihn treffen könnte?
Ich muß nämlich unbedingt mit diesem Herrn sprechen.“
„Nein, ich weiß nicht, wo er sich
aufhält.“
„Schade, schade. Trotzdem vielen Dank,
Monsieur Maillard.“
Unten stellte ich der Concierge ein
paar Fragen. Ich erfuhr nichts Neues, nur daß Monsieur Maillard kein Telefon
besaß. Das hörte ich gern. So konnte ich etwas versuchen... Da ich im Moment
sowieso nichts anderes zu tun hatte...
Aus einem Bistro in der Nachbarschaft
rief ich bei Vielfrucht an und bat Rouget, mir den Lieferwagen der Firma
zu schicken. Er fragte, ob er vielleicht eine Tänzerin hineinsetzen solle. Ich
erwiderte, eine habe bereits mit dem Fall zu tun, der mich gerade beschäftige,
das reiche.
Kurz darauf war der Lieferwagen zur
Stelle. Am Steuer saß ein Rothaariger mit pfiffigem Gesicht. Wir waren uns auf
Anhieb sympathisch. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und wies ihn an, an
einer bestimmten Stelle zu parken. Dort warteten wir und erzählten von Paris.
Die Nacht brach herein, und ich wollte schon die Hoffnung aufgeben. Da trat
Maillard aus dem Haus. Ich beglückwünschte mich, über einen fahrbaren Untersatz
zu verfügen. Der Mann, den ich beschatten wollte, stieg auf ein Fahrrad. Ich
gab dem Rotschopf ein Zeichen, und er startete den Lieferwagen. Wir
durchquerten die Stadt von Süden nach Osten. Die Häuser wurden immer
spärlicher. Wir fuhren an einer Eisenbahnlinie entlang.
„Wo sind wir?“ fragte ich.
„Ich bin zwar noch frisch hier in
Marseille“, entschuldigte sich mein Fahrer, „aber so langsam finde ich mich
zurecht. Wir fahren die Strecke La Blancarde-Saint-Barnabé.“
„Sagten Sie Saint-Barnabé? Sehr
interessant!“
Neben uns zischten und pfiffen
Lokomotiven, kreischten Räder auf den Schienen, stießen Puffer gegeneinander.
Der Lärm kam uns zustatten: Der Fahrradfahrer vor uns achtete nicht auf unser
Motorengeräusch. Plötzlich stieg er ab und schob sein Rad in eine Sackgasse (so
stand es auf dem Schild). Links und rechts der verschmutzten Fahrbahn erstreckte
sich unbebautes Gelände mit lückenhaften Bretterzäunen. Der Rothaarige blieb im
Fahrerhaus sitzen, während ich diesem Maillard — nennen wir ihn vorläufig so —
folgte. Ich ging übers freie Feld. So konnte ich mich, wenn nötig, hinter den
Zäunen verbergen.
Die Gegend war düster und verlassen.
Auch die Nacht konnte die Atmosphäre nicht in etwas Lustigeres verwandeln.
Zusammen — oder so gut wie — gelangten wir zum bewohnten Teil dieses leprösen
Viertels. Zwei Häuschen standen auf der linken, eins ganz alleine auf der
rechten Seite. Vor dem alleinstehenden Haus sah ich Maillard stehenbleiben. Ich
wartete. Mein „Objekt“ zog an der Glocke, doch das laut klingende Glockenspiel
blieb ohne Resonanz. Dunkelheit, Stille und Verlassenheit. Von den beiden
Häusern gegenüber sah eins ebenso tot aus, nur das dritte schien bewohnt. So
war es auch, denn im selben Augenblick öffnete sich die Tür, und schwaches
Licht fiel auf den matschigen Weg. Eine kleine Alte kam heraus und krächzte:
„Minou! Minou!“ Doch der Kater meldete sich nicht. Schimpfend wagte sich das
Mütterchen hinaus auf den Weg. Da sah sie Maillard. Zwischen zwei „Minouminou“s
stellte sie ihm in der gleichen Tonlage die Frage:
„Ach, Sie wollen sicher zu Monsieur
Bernard, M’sieu?“
Hier hieß er also Bernard? In
weniger als einer Stunde war ein und dieselbe Person mit drei verschiedenen
Namen belegt worden. Sehr vielversprechend!
„Genau“, antwortete Maillard. „Er
scheint nicht da zu sein.“ Die Alte verstand nicht. Alles deutete darauf hin,
daß sie taub war. Sie wiederholte ihre Frage. Maillard begnügte sich diesmal
mit einem volltönenden „Ja!“
„Also, der ist nicht da. Wird wohl
verreist sein. Seit Tagen hab ich nichts von ihm gehört oder gesehn.“
Sie machte sich wieder auf die Suche
nach dem streunenden Kater. Maillard stellte sich in den Lichtschein, schrieb
etwas auf einen Zettel und schob seine Botschaft in den Briefkastenschlitz von
Beaucher-Barnabé-Bernard.
Inzwischen war der Rothaarige zu
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