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Das fünfte Verfahren

Das fünfte Verfahren

Titel: Das fünfte Verfahren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Léo Malet
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anständigen Wörtern betrug etwa zwei zu eins.
    Es hatte geläutet. In der Annahme, es
seien die Menschenschmuggler, die ihre „Ware“ abholen wollten, hatte er arglos
geöffnet. Vor ihm hatte ein Kerl gestanden, „wie ein Baum“, maskiert und
bewaffnet. Pierre hatte nicht mal „uff“ sagen können. Ein sauberer Schlag mit
dem Totschläger, und die ehemalige Hoffnung des Boxsports war ausgeknockt.
Knebeln und Fesseln waren dann nur noch Formsache gewesen.
    Ich berichtete dem Krankenpfleger von
dem traurigen Schicksal seines Chefs. Pierre war wie vom Donner gerührt. Wir
gingen wieder in den kleinen Salon des Toten zurück, wo wir einige Fingerbreit
— es waren sehr dicke Finger — Kognak kippten.
    „Können Sie mir was über den Kranken
erzählen, der verschleppt worden ist?“ fragte ich die beiden.
    Sie konnten nicht. Ich wechselte das
Thema. Fred Delans Tod erschwerte die Situation außerordentlich. Man mußte die
Polizei benachrichtigen. War das wirklich unvermeidlich? Pierre erklärte, daß
ihm das überhaupt nicht in den Kram passe. Aber auch er sah keine andere
Möglichkeit. Ich wollte gerade einwerfen, daß die drei anderen Aspiranten auf
das illegale Überschreiten der Linie wohl genausowenig davon begeistert seien,
als es läutete. Es war das Telefon im ehemaligen Arbeits- und jetzigen
Totenzimmer. Wir liefen hinüber. Ich nahm den Hörer und lauschte. Nach ein paar
Sekunden gab ich den Hörer an den Krankenpfleger weiter. Sicherlich war er besser
als ich in der Lage, den Sinn der sibyllinischen Worte, die durch den Hörer
schallten, zu entschlüsseln.
    „Die Schleuse von Saint-Alter ist
passierbar“, verkündete er und legte auf. „Um sieben wird die ,Ware’ abgeholt.“
    Jetzt war es weit nach fünf. Da ich
den Transport nicht verpassen wollte — ich konnte es kaum noch erwarten, Robert
Beaucher gegenüberzutreten — , blieb mir keine Ewigkeit, um in den Archiven
meines toten Freundes zu stöbern. Ich brauchte unbedingt ein paar Informationen
über den Gekid-appten. Der Krankenpfleger, Jeanne und ich erfanden in aller
Eile ein leicht verdauliches Märchen, das man den Patienten zum Frühstück
auftischen konnte. Dann begann meine Wühlarbeit im Archiv. Das Ergebnis war
negativ. Auf der Karteikarte von Victor Fernèse stand nur, daß er Ingenieur
war. Nicht mal die Branche war angegeben. Genausogut hätte Delan notieren
können, Fernèse habe eine besondere Vorliebe für kalte Artischocken.
     
    * * *
     
    Am selben Abend passierte ich — man
kann sich vorstellen, mit welcher Begeisterung! — die Demarkationslinie.

Der Spaß geht weiter
     
     
    Am Nachmittag des 16. November, einem
Montag, traf ich bei bedecktem Himmel in Marseille ein. Da ich nicht wußte, in
welchem Hotel ich absteigen sollte, dachte ich an Jean Rouget, einen Freund,
den ich bei meinem letzten Aufenthalt in der Phönizierstadt nicht besucht
hatte. Heute jedoch konnte er mir verdammt nützlich sein.
    Ich hatte Jean Rouget vor dem Krieg in
der Rumbrennerei Martinique kennengelernt. Nach dem Waffenstillstand
hatte er entdeckt, daß er das Zeug zu einem Industriellen besaß. Hier in
Marseille hatte er zusammen mit ein paar anderen Leuten, die aus den
unterschiedlichsten Gründen das Hakenkreuz lieber von weitem sahen, eine Fabrik
für Geleefrüchte gegründet. Seine Erzeugnisse waren hygienisch einwandfrei.
Denn seit er sie verkaufte — und er verkaufte sie! — , war in Bouches-du-Rhône
und in den angrenzenden Departements kein Fall von Lebensmittelvergiftung
bekanntgeworden. Einige Dutzend Frauen und Männer arbeiteten in dem Unternehmen
und lebten davon. Alles ehemalige Pariser aus Saint-Germain-des-Prés und
Montparnasse mit den verschiedensten Berufen. Kino- und Varietékünstler waren
vertreten, Maler und politische Agitatoren. Auch Chemiker befanden sich
darunter, und die Mehrheit hieß Duval, Dubois oder Dupont. Letztere besaßen
keinen ausgeprägt südlichen Akzent, und ihre Anwesenheit an diesem Ort hatte
Rouget von seiten wenig feinfühliger Zeitgenossen den Spitznamen Papa Getto eingebracht. Kurz und gut, Vielfrucht war ein furchtbar sympathisches
Unternehmen. Das, was man allgemein eine reelle Firma nennt. Ich beschloß,
diese Firma aufzusuchen.
    Trotz seines Namens war Rouget ein
blasser Typ mit hagerem Gesicht, dicken Brillengläsern und einer wundervollen
Baßstimme. Als er mich sah, machte er Gebrauch davon. Auf die Gefahr hin, daß
im Hause Panik ausbrechen oder ich verprügelt würde, tönte er

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