Das fünfte Verfahren
schon jemand anders ihn besuchen
wollen. Wann? Tja, an dem Tag, als Minou wieder mal abgehauen sei. Also, dieser
Minou, das sei ein richtiger Filou! Ständig müsse sie hinter diesem verflixten
Kater herlaufen. So sei es auch zu erklären, daß sie die Leute überhaupt
gesehen habe. Eigentlich verlasse sie nämlich nur höchst selten ihre Küche...
Am 12. sei das gewesen, nach Einbruch der Nacht. Nein, kein Zweifel, der letzte
schöne Tag. Und das in Marseille, der Stadt des sonnigen Südens, nein!
„Das müssen meine Freunde gewesen
sein“, sagte ich. „Eine Frau war auch dabei, nicht wahr?“
„Ja, genau, M’sieu! Es waren drei,
zwei Männer und eine Frau. So viele Leute sind nur selten hier. Denken Sie,
eine so ruhige Straße, hier kommt fast nie jemand vorbei. Eine Sackgasse. Außer
uns wohnt nur noch Monsieur Bernard hier, und Monsieur Bernard bekommt kaum
Besuch. Und das Haus nebenan... Zu vermieten ist es, aber wer will schon so was
mieten. Löcher im Dach, in den Decken und Böden und in den Wänden und überall.
Und dann in diesem Viertel... Die Flüchtlinge schlafen lieber zu fünft in einem
Hotelzimmer oder auf dem Grünstreifen hinter der Börse, bevor sie sich hierher
verirren. Das Ende der Welt, das ist der richtige Ausdruck. Bei uns ist das was
anderes, wir sind jetzt dreißig Jahre hier. Wir haben uns dran gewöhnt...“
Als sie Luft holen mußte, nutzte ich
die günstige Gelegenheit, um wieder auf die Besucher vom 12. November
zurückzukommen.
„Könnten Sie sie mir vielleicht
beschreiben?“ schrie ich. „Um sicher zu sein, daß es meine Freunde waren!“
Das Mütterchen kratzte sich hinterm
Ohr und wiegte den Kopf.
„Hm... Wie gesagt, es war Nacht, und
meine Augen sind nicht mehr die besten... Nein, ich kann nicht sagen, wie sie
aussahen, Ihre Freunde, wenn sie’s wirklich waren... Tja, die Dame könnte einer
Modezeitschrift entsprungen sein, hab ich noch gedacht...“
„Ha!“ sagte ich zu mir, „sie sah aus
wie ‘n loses Frauenzimmer, das hast du gedacht! Aber da sie zu meinen Freunden
gehört, hältst du deine Zunge im Zaum. Aber das macht nichts. Jackie Lamour
war’s, die du gesehen hast, am 12. November.“
Laut und deutlich erklärte ich ihr,
daß es sich um meine Freunde handele. Daraufhin verriet mir die Alte, daß
gestern abend noch jemand hier gewesen sei. Vielleicht auch einer meiner
Freunde? Er habe sich ins Licht gestellt und etwas auf einen Zettel
geschrieben, und ein komisches Bärtchen habe er gehabt. Ich antwortete, nein,
den kenne ich nicht.
Die Unterhaltung war beendet, ich ging
zur Tür. Vor dem Büfett blieb ich stehen und zeigte auf die Fotos.
„Hübsche Bengel sind das, Madame. Ihre
Söhne, nehme ich an?“
„Jawohl, M’sieu“, erwiderte sie
geschmeichelt. „Der Ältere ist verheiratet. Sitzt im Gefängnis. Dem anderen,
Jean, ist es gelungen, sich nicht schnappen zu lassen. Er wohnt bei mir und hat
Arbeit. Zum Glück, ich wüßte sonst nicht, wie ich rumkommen sollte. Eine
schreckliche Zeit ist das, schrecklich und hart...“
Ich hakte nach:
„Ihr Sohn hat Arbeit?“
„Keine schlechte Arbeit, aber reich
kann man damit nicht werden. Er ist bei Daumas-Aragno, an der Joliette.“
Daumas-Aragno kannte ich nicht, aber
ich wußte, wo sich die Joliette befand.
„’n hübsches Ende“, bemerkte ich.
„Aber er hat ja sicher ein Fahrrad.“
Das taube Mütterchen schrie ihren
Protest heraus: „Fahrrad? Ha! Er geht zu Fuß zur Straßenbahn, und das ist nicht
gleich um die Ecke, das kann ich Ihnen flüstern!“
Das war nun nicht der richtige
Ausdruck!
„Und wenn es später wird“, fuhr sie
fort, „geht er die ganze Strecke zu Fuß. Ein Fahrrad kostet ‘ne Stange Geld...
wenn man überhaupt eins findet! Nein, mein Jean hat kein Fahrrad.“
„Ein braver Junge!“
„Oh, das ja, M’sieu.“
„Ja dann, vielen Dank, Madame! Schade,
daß meine Freunde nicht auf mich gewartet haben. Wirklich nicht nett von ihnen.
Aber auf wen ist noch Verlaß? Na ja, ich werd mich mal ‘n bißchen hier in der
Gegend umsehen. Richtig pittoresk, Ihr Viertel.“
„Und wie!“ bestätigte die Alte.
Offensichtlich war sie sich über den
Sinn des Wortes nicht im klaren.
„Darf ich Ihnen so lange mein Fahrrad
anvertrauen?“
„Natürlich. Stellen Sie’s nur in den
Schuppen. Sie können’s abholen, wann Sie wollen.“
Ich ging die Sackgasse weiter, bis ich
vor einer in sich zusammenfallenden Mauer stand. Dahinter bot sich eine
trostlose Landschaft dem Auge
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