Das fünfte Zeichen
hat er aber noch irgendein Treffen. Er bleibt bis morgen in Oslo, dann muss er wieder zurück. «
» Nach Berlin? «
» Nein, nein. Es ist lange her, dass Sven dort gewohnt hat. Jetzt wohnt er in Tschechien. In Bohemia, pflegt er immer zu sagen, der alte Aufschneider. Warst du schon mal dort? «
» In … äh … Bohemia? «
» In Prag? «
M arius Veland starrte aus dem Fenster von Zimmer 406. Auf der Wiese vor dem Wohnheim lag ein Mädchen auf einem Handtuch. Sie sah ein bisschen aus wie die von 303, die er für sich Shirley getauft hatte, nach Shirley Manson vo n d er Gruppe Garbage. Aber sie war es nicht. Die Sonne hatte sich über dem Oslofjord hinter ein paar Wolken versteckt. Endlich hatte es begonnen, warm zu werden, und für die Woche war sogar eine Hitzewelle vorausgesagt worden. Sommer in Oslo. Marius Veland freute sich darauf. Die Alternative wäre gewesen, heim nach Bøfjord zu fahren, die Mitternachtssonne zu genießen und wie immer in den Ferien bei der Tankstelle zu jobben. Zu Mutters Fleischbällchen und Vaters ewigen Fragen, warum er denn ausgerechnet Medienwissenschaften in Oslo studieren musste, er, dessen Noten doch für ein Ingenieurstudium an der NTNU in Trondheim ausgereicht hätten. Zu Samstagen im Gemeindehaus mit betrunkenen Nachbarn, grölenden Klasse n kameraden, die den Absprung aus Bøfjord nicht geschafft hatten und alle, die gegangen waren, für Verräter hielten. Zu einer Tanzcombo, die sich Bluesband nannte, aber nicht davor zurückschreckte, Creedence und Lynyrd Skynyrd zu verballho r nen. Doch das war nicht der eigentliche Grund, im Sommer in Oslo zu bleiben. Er hatte einen Traumjob angeboten bekommen. Er sollte schreiben. Platten hören, Filme ansehen und dafür bezahlt werden. In den PC hämmern, was er davon hielt. Die letzten zwei Jahre hatte er seine Kritiken an die verschiedensten Zeitungen geschickt. Ohne Ergebnis. Doch im letzten Monat war er im So What! gewesen. Ein Kumpel hatte ihn mit Runar bekannt gemacht. Und dieser Runar hatte ihm erzählt, er wolle seine Boutique schließen, um die Zone zu starten, eine Grati s zeitschrift, die laut Plan zum ersten Mal im August erscheinen sollte. Sein Kumpel hatte erwähnt, dass Marius gerne Kritiken schrieb, und Runar hatte gesagt, seine Nase gefalle ihm. Er hatte ihn an Ort und Stelle eingestellt. Als Kritiker sollte Marius die neo-urbanistischen Werte diskutieren und die Populärkultur dabei mit einer Ironie behandeln, die nicht kalt sein sollte, sondern warm, verständig und integrativ. So hatte Runar es jedenfalls formuliert. Marius sollte dafür reich belohnt werden. Nicht in Form von Geld, sondern von Gratis -E intrittskarten zu Konzerten und Filmen, Zutritt zu neuen Szenekneipen und damit zu Kreisen, in denen er für die Zukunft interessante Kontakte knüpfen konnte. Das war seine Chance, und das verlangte eine gehörige Vorbereitung. Natürlich hatte er einen ganz guten Gesamtüberblick, aber er hatte sich Runars CD-Sammlung leihen dürfen, um sich weiter in die Geschichte der Popmusik einarbeiten zu können. Die letzten Tage der amerikanischen Rockwelle in den Achtzigern: REM, Green On Red, Dream Syndicate, Pixies. Jetzt liefen gerade die Violent Femmes. Es klang überholt, aber energisch: » Let me go wild. Like a blister in the sun! «
Das Mädchen dort unten erhob sich von ihrem Handtuch. Es war ihm wohl zu kühl geworden. Marius sah ihm auf dem Weg zum Nachbarblock nach. Auf seinem Weg begegnete es einem Fahrradfahrer. Sah jedenfalls aus wie ein Fahrradkurier. Marius schloss die Augen. Er sollte besser schreiben.
O tto Tangen rieb sich mit nikotingelben Fingern die Augen. Im Bus hatte sich eine Unruhe ausgebreitet, die echter Ruhe zum Verwechseln ähnelte. Niemand rührte sich, niemand sprach. Es war zwanzig Minuten nach fünf, und auf keinem der Bilder war auch nur eine einzige Bewegung zu registrieren, nur winzige Bruchstücke der Zeit, die in weißen Ziffern in einer Bildschir m ecke davonhastete. Wieder rann ein Schweißtropfen zwischen Ottos Pobacken. Wenn man so dasaß, konnte man manchmal glauben, jemand habe das Material manipuliert. Dass man sich die Aufnahme vom Vortag oder so was Ähnliches ansah.
Er trommelte mit den Fingern auf dem Tisch herum. Dieser Waaler hatte ein Rauchverbot ausgesprochen.
Otto lehnte sich etwas nach rechts und ließ einen tonlosen Furz fahren, während er einen Blick auf den Typ mit den blonden Stoppeln warf. Seit seinem Eintreffen hockte der auf seinem Stuhl und
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